Unter feindlicher Flagge
Zeit er benötigen würde - Windverhältnisse und Gezeitenstrom mit einberechnet -, und Hayden glaubte, dass Bourne mit dieser Einschätzung grundsätzlich richtig lag. Doch nun war es von großer Wichtigkeit, dass Hayden und Philpott genau im entscheidenden Moment die französische Brigg angriffen. Das wiederum bedeutete, dass der Feind die Angriffsabsicht durchschauen würde, bevor Bourne tatsächlich auftauchte, und das war ein Risiko. Aber daran konnte Hayden nun auch nichts mehr ändern.
Wickham trat zu ihnen. »Ist das Ihr erstes Gefecht, Mr Philpott?«
»Ich muss zugeben, ja, Lord Arthur, obwohl wir die Handelsschiffe beschossen haben. Was für ein Unglück für Kapitän Wilson. Möge seine Seele Ruhe finden. Und ist dies auch Ihr erstes größeres Gefecht?«
»Nein, Sir, aber bis vor Kurzem war ich in derselben Position wie Sie. Unmittelbar in der Straße von Brest griff Mr Hayden ein Handelsschiff an, und an diesem Unternehmen durfte ich teilnehmen. Dann wurden wir an Land geschickt, wo wir in einige Scharmützel mit französischen Soldaten und Männern der Miliz verwickelt wurden.«
Der junge Leutnant war beeindruckt. »Hört sich ganz danach an, dass Sie einiges erlebt haben, Lord Arthur.«
»Das habe ich alles Mr Hayden zu verdanken«, erwiderte der Midshipman. »Er kämpft lieber, anstatt Gin zu trinken, wie die Matrosen sagen.«
Hayden musste lachen. »Oh, ich habe nichts gegen ein Gläschen Gin einzuwenden, Mr Wickham«, sprach er. »Was beweist, dass Sie nie auf die Weisheit der Matrosen vertrauen sollten.«
»Mit Ausnahme von Mr Aldrich, Sir«, sagte Wickham ernst.
»Aldrich ist die Ausnahme bei allen Regeln«, stimmte Hayden ihm zu. Augenblicklich verschlechterte sich seine Laune, als er an den Vollmatrosen dachte, der so jämmerlich in Doktor Griffiths Lazarett lag, mit zerfetztem und blutigem Rücken.
Bei den Befestigungsanlagen auf der Île d'Houat stieg nun eine pilzförmige Rauchschwade auf, gefolgt von dem Geräusch der durch die Luft sausenden Eisenkugel. Zwanzig Fuß vor der Lucy stieg eine Wassersäule aus dem Meer. Dem ersten Schuss folgte rasch ein zweiter.
Während der nächsten halben Stunde schossen sich die Franzosen langsam auf die Briten ein. Eine Kugel rauschte nah am Fockmast der Themis vorbei, richtete keinen großen Schaden in der Takelage an. Hayden behielt den Kurs bei und war überrascht, dass auch Hart langsam folgte. Mit Befriedigung nahm Hayden wahr, dass auch sein Kommandant dem feindlichen Beschuss ausgesetzt war. Denn nun konnte Hart mit der starken englischen Fregatte nicht einfach abdrehen, wenn sich sogar die kleinere Sloop an den Feind heranwagte. Eins stand schon jetzt fest: An der Stelle der Lucy hätte eigentlich die Fregatte sein müssen. Ein mutigerer Kommandant der Themis hätte den Angriff übernommen, und Hart musste nun aufpassen, dass er die ihm zugedachte Nebenrolle einigermaßen passabel spielte, um nicht das Gesicht zu verlieren.
Als sie es an Bord der Lucy zeitlich für richtig befanden, änderten sie den Kurs. Die Batterie auf der Île d'Houat hörte mit der Kanonade nicht auf. Als die Lucy wendete, schlug ein Geschoss so nah am Rumpf ein, dass die Offiziere, die an der Reling standen, durchnässt wurden.
Hayden wischte sich mit dem Ärmel das salzige Wasser aus dem Gesicht und sah Philpott an, der genauso nass war wie er. Beide Männer lachten.
»Verdammte Franzosen ...«, rief Philpott. »Die haben wohl gesehen, dass ich meine neue Jacke trage!«
Die beiden Leutnants und der Midshipman legten Jacken und Hüte ab, die Philpotts Diener unter Deck brachte. Da Hayden keinen zweiten Uniformrock dabei hatte, beschlossen die drei Gentlemen, fortan in ihren Westen zu kämpfen.
»Die Männer an Bord der Tenacious werden jetzt wohl glauben, dass wir unsere Jacken aus Angst vor Scharfschützen abgelegt haben«, sagte der junge Leutnant.
»Dann müssen wir um jeden Preis beweisen, dass wir nicht zaghaft sind«, meinte Hayden.
»Deck!«, erscholl es aus dem Ausguck. »Segel! Süd bei Ost!«
»Das ist Kapitän Bourne!«, rief Wickham aufgeregt und machte einen kleinen ungestümen Luftsprung.
»So ist es«, bestätigte Hayden und blickte hinüber zu der Fregatte, die nun die Pointe de Kerdonis an der südöstlichen Landzunge umrundete.
Bald glitt die Tenacious in die Schatten der Insel, als der Wind mit der untergehenden Sonne ein wenig abflaute. Im abnehmenden Licht sah Bournes Fregatte unheilvoll und Furcht einflößend aus, dachte Hayden und
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