Unter goldenen Schwingen
mich verzweifelt an Seraphela, suchte irgendwo Halt, kämpfte gegen das Beben meines Körpers und einen überwältigenden Fluchtinstinkt an. Ich zwang mich mit letzter Kraft, mich zusammenzureißen.
Ramiel … bitte …
Ich musste einen klaren Kopf behalten, musste mehr verstehen und schneller denken als jemals zuvor in meinem Leben – dies war zu wichtig. Ich versuchte, langsamer zu atmen, meinen Herzschlag zu beruhigen, und zwang mich, die Erzengel anzusehen.
› Sie war es, die sich selbst aufgegeben hat.‹ Der Satz klang in meinem Kopf nach. Irgendetwas … doch ich konnte es nicht klar erkennen.
»Sie hat sich dem Einfluss der Finsternis ergeben«, sagte der zweite Erzengel und seine Stimme tanzte von den alten Steinwänden. »Ihr Schicksal war besiegelt. Du hättest sie nicht retten dürfen.«
»Für uns ist sie bereits gestorben«, sagte Michael. »Was du getan hast, wird ihren Tod nicht abwenden.«
»Nein!« Nathaniels Stimme hallte durch die Kapelle. »Ihr versteht nicht, warum …«
Sein Aufschrei erweckte meinen tauben Verstand wieder zum Leben. Mein Körper wollte mir nicht gehorchen, ich klammerte mich an Seraphela, und sie erriet meine Absicht und zog mich mehr auf die Beine, als dass ich mich selbst erhob. Kaum fähig, mein eigenes Gewicht zu tragen, stützte ich mich auf ihren Arm und hoffte verzweifelt, dass meine Stimme mir gehorchen würde.
»Du hast eigenmächtig gehandelt und in ihr Schicksal eingegriffen«, sagte Michael. »Du kennst unsere Gesetze. Es ist eine Tat, die wir nicht vergeben werden.«
»Nein … « Meine zittrige, menschliche Stimme klang rau und grob neben den reinen Stimmen der Engel.
Nathaniel wandte sich mir alarmiert zu. Er hatte nicht bemerkt, dass ich aufgestanden war, doch jetzt war er sofort an meiner Seite, um mich zu halten.
»Victoria«, erklang die Stimme des mächtigsten Erzengels, plötzlich ruhig und viel sanfter.
Ich erschrak, doch ich blickte ihn an.
»Es ist ein besonderer Fall, dass du diesem Tribunal beiwohnst. Doch du kannst die Tatsachen nicht ändern.«
»Sie hat ihre Engel erkannt«, sagte der zweite Erzengel mit seiner vibrierenden Stimme und betrachtete mich mit einem Ausdruck, der beinahe als Interesse gedeutet werden konnte.
»Dennoch ist ihr Tod ihr Schicksal«, sagte der dunkle Erzengel. Seine kalten Augen durchbohrten mich. »Und ihr Schutzengel wird für seine Fehlhandlung bestraft werden.«
»Nein!«, brachte ich nochmals keuchend hervor. Ich rang mit mir, kämpfte darum, die Worte auszusprechen, die ich sagen musste – doch mein Verstand und meine Stimme gehorchten mir viel zu träge.
»Keiner der Erzengel hat befohlen, diese Sterbliche zu retten«, sagte Uriel. »Nathaniel hat ein Verbotenes Wunder vollbracht.«
»Bestreitest du es?«, fragte Michael.
»Nein«, sagte Nathaniel demütig.
»Hast du etwas zu deiner Verteidigung vorzubringen?«, fragte der mächtigste Erzengel.
Ich hielt den Atem an. Ich suchte nach den Worten, um endlich das auszusprechen, was ich aussprechen musste, bevor Nathaniel die Worte sagte, die ihn vernichten würden – doch ich hatte keine Kontrolle über meinen Körper.
Nathaniel schwieg.
»Dann ist es beschlossen«, sagte Michael. »Nathaniel wird …«
Ich habe … mich nicht … aufgegeben!
Meine Stimme gehorchte mir nicht, deshalb schrie ich die Worte in meinen Gedanken.
»Wartet!« Es war Seraphelas helle Stimme, die durch die Kapelle hallte.
Die drei Erzengel hielten inne und wandten sich ihr zu.
»Victoria hat etwas zu sagen«, sagte Seraphela laut und klar.
Der mächtigste Erzengel blickte mich an. Ich zwang mich, seinem Blick nicht auszuweichen, und endlich – obwohl meine Stimme nur noch ein heiseres Flüstern war – schaffte ich es, den wichtigen Satz auszusprechen.
»Ich habe … mich nicht … aufgegeben«, flüsterte ich. Meine Stimme zitterte. »Ich wollte … nicht sterben. Ich habe … um Hilfe gefleht … in dem Auto, als ich dachte … ich würde sterben.«
Für einen Augenblick war es vollkommen still in der alten Kapelle. Nathaniels Augen ruhten mit einem erschütterten Ausdruck auf mir und zwischen den Erzengeln ging irgendetwas vor sich. Sie schienen ohne Worte miteinander zu kommunizieren.
»Du hast Nathaniel nicht gerufen«, erklang die Stimme des zweiten Erzengels. Sein Ton war so vage, dass es unmöglich zu deuten war, ob er mich einer Lüge bezichtigte, oder einfach eine Tatsache nannte.
»Nehmt meine … Erinnerung«, flehte ich heiser. »Seht selbst …
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