Unter goldenen Schwingen
was damals geschehen ist.«
Ich strengte mich an, mir die letzten Momente vor dem Unfall in mein Gedächtnis zu rufen – so klar, wie Lazarus sie mir vor wenigen Stunden im Traum gezeigt hatte, ohne den Nebel der Inferni in meinem Kopf. Der Moment, als der Wagen über die Böschung schoss, als ich die Mauer auf mich zurasen sah, der goldene Schimmer auftauchte, und alles schwarz wurde.
»Wir wissen, was geschehen ist«, sagte der dunkle Erzengel, seine Stimme ein hartes Zischen.
»Du hast Nathaniel nicht um Hilfe gerufen«, sagte Michael, doch sein Ton war immer noch sanft.
»Weil ich nicht mehr … genug Zeit hatte … einen klaren Gedanken zu fassen«, flüsterte ich verzweifelt. »Bitte … seht meinen letzten Augenblick … meinen letzten Moment vor dem Aufprall. Könnt ihr … mein letztes Gefühl spüren?«
Ich schloss die Augen. Ein letztes Mal zwang ich die Erinnerung an den Unfall in meinen Geist, so klar und deutlich wie ich es vermochte.
Ich ließ den letzen Moment in meinem Verstand ablaufen, als der Wagen über die Böschung schoss, ich die Augen schloss und für einen kurzen Moment ein goldenes Schimmern wahrnahm, und dann eine winzige Empfindung – bevor alles schwarz wurde.
»Mein … letztes … Gefühl«, flüsterte ich matt, meine Stimme kaum hörbar.
Ich vertraute verzweifelt darauf, dass diese mächtigen Engel meine Gedanken und Gefühle noch viel deutlicher hören und spüren konnten als Nathaniel und die anderen. Es war meine einzige Rettung.
Es war Nathaniels einzige Rettung.
Die Erzengel sahen mich lange an. Dann war es der Mächtigste von ihnen, der schließlich sprach.
» Hoffnung «, sagte Michael langsam. Seine ruhige, starke Stimme klang beinahe überrascht.
Die anderen Erzengel schwiegen. Nathaniel und Ramiel blickten mich stumm an, doch Seraphela sah aus wie vom Blitz getroffen. Es dauerte jedoch nur wenige Momente, bis sie sich wieder gefasst hatte, feste Entschlossenheit in ihrem Ausdruck.
»Ein Mensch, der sich aufgegeben hat, hofft nicht mehr«, sagte sie und ihre helle Stimme klang klar durch die Kapelle.
In diesem Augenblick fielen alle zwiespältigen Gefühle, die ich jemals für sie gehabt hatte, von mir ab, und ich hätte sie umarmen können für ihre rasche Reaktion.
Ramiel begriff ebenfalls und kam Sera zu Hilfe. »Es war Victorias Art, Hilfe zu erflehen«, sagte er ruhig, so, als würde er eine zweifelsfreie Tatsache erklären.
Die Erzengel schwiegen und wieder hatte ich das Gefühl, als kommunizierten sie lautlos.
»Sie hat Nathaniels Anwesenheit als goldenen Schimmer wahrgenommen«, zischte der dunkle Erzengel nach einigen Momenten. »Er ist aufgetaucht, bevor sie auf Hilfe gehofft hat. Der Schutzengel hat unerlaubt gehandelt.«
»Sie wusste nicht, was sie sah«, erklang Ramiels respektvolle Stimme. »Nathaniel war nur anwesend, er konnte nicht ahnen, dass sich ihr Herz im Angesicht ihres unmittelbar bevorstehenden Todes öffnen würde. Sie nahm ihn als goldenen Schimmer wahr, und obwohl sie nicht wusste, was sie sah, reagierte sie mit einem einzigen, deutlichen Gefühl: sie empfand Hoffnung.«
»Für Nathaniel war das ein Hilferuf«, sagte Seraphela, ihre Stimme ebenfalls ruhig und respektvoll. »Er schützte sie während des Aufpralls und befreite sie aus dem Wrack. Er rettete ihr Leben, weil sie auf Rettung hoffte . «
»Nathaniel hat nicht eigenmächtig gehandelt«, sagte Ramiel.
Die Erzengel hörten schweigend zu. Ich war unendlich dankbar für Ras scharfen Verstand und Seras rasche Auffassungsgabe, denn ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, geschweige denn, dass ich fähig gewesen wäre, eine flammende Rede zu Nathaniels Verteidigung zu halten.
»Die Hoffnung eines Schützlings ist eine machtvolle Aufforderung für einen Schutzengel«, sagte schließlich der zweite Erzengel mit flackernder Stimme.
»Das ist eine Wendung, die wir bedenken sollten«, sagte Michael. »Wie kann es sein, dass uns diese Empfindung entgangen ist?« Er blickte von einem Engel zum anderen.
Ich erstarrte. Das war die Frage, die ich befürchtet hatte. Die Frage, für die ich keine Erklärung hatte. Die Frage, die meiner Verteidigung das Genick brechen würde.
»Es war mein Fehler.« Seraphelas klare Stimme hallte durch die Kapelle. Sie richtete sich neben mir auf und hielt ihren Blick fest auf die Erzengel gerichtet. Ich hielt den Atem an.
»Wie konnte dir ein Gefühl deines Schützlings entgehen?«
Es war unmöglich zu deuten, ob Michael im Zorn sprach.
Im
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