Unter goldenen Schwingen
schnell und so weit weg wie möglich. Er hob die Arme in einer beschützenden Geste – und zwang sich, sie wieder sinken zu lassen.
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte er leise. Seine Stimme klang gezwungen. »Du kannst dich noch anders entscheiden. Du kannst das alles hinter dir lassen.«
»Es … hinter mir lassen?«
Er deutete auf die Kirchentür. Sein Gesicht war emotionslos, wie in Stein gemeißelt. »Du kannst dich entscheiden, zu gehen. Dann wirst du diese Kreaturen nie wiedersehen.«
Ich starrte auf die schweren Eisentore. »Ist es so einfach?«, murmelte ich ungläubig. Die Vorstellung war verlockend. Beinahe unwiderstehlich.
»Du musst dich nur dafür entscheiden«, sagte er leise.
»Was ist mit dir?«, flüsterte ich. »Würde ich dich wiedersehen?«
Er erzwang eine steinerne Maske. Seine Stimme klang tonlos. »Ich werde immer bei dir sein.«
Ich begriff. Wenn ich mich gegen diese Welt entschied, dann schloss diese Entscheidung auch ihn mit ein. Ich würde ihn nie wiedersehen. Er las diese Erkenntnis in meinem Gesicht und nickte wortlos.
Absolut nichts würde mich dazu bringen, ihn aus meinem Leben zu verbannen, ganz egal wie tief das Grauen war, das die verwesenden Kreaturen in mir ausgelöst hatten. Mein Herz traf diese Wahl in einem einzigen Augenblick. Es war eine klare, eindeutige Entscheidung.
Er fühlte die Wahl, die ich getroffen hatte, und schloss die Augen. Ich sah in seinem Gesicht zugleich Qual und unendliche Erleichterung.
Auch ich spürte, dass meine Entscheidung etwas verändert hatte. Es war, als ob hinter mir eine Tür ins Schloss gefallen war.
»So ist es«, flüsterte er kaum hörbar und öffnete langsam die Augen. »Du hast deinen Weg gewählt.« Er schien jetzt jede Zurückhaltung abzulegen.
»Du ahnst bereits, was sie sind«, sagte er mit sanfter Stimme, während er aufmerksam mein Gesicht betrachtete. »Die Geschöpfe, die dich angegriffen haben. Du spürst es, nicht wahr?«
Ein entsetzliches Gefühl stieg bei dieser Erinnerung in mir auf. Ich neigte zögernd den Kopf.
»Ich habe Angst vor ihnen«, sagte ich leise. »Es ist … es ist wie …« Ein Schauer lief über meinen Körper.
»Es ist euer Urinstinkt, der euch so reagieren lässt«, sagte er leise. »Heute hast du sie zum ersten Mal gesehen. Doch es war nicht deine erste Begegnung mit ihnen.«
Die Schauer, die über meinen Körper liefen, hatten nichts mit der Kälte in der Kirche zu tun. »Wie meinst du das?«, flüsterte ich.
Er schwieg.
»Wann?«, fragte ich leise.
»Heute Nachmittag, als du in die Bibliothek gekommen bist. Gestern Abend in der U-Bahn-Station. Gestern Nacht, neben deinem Bett …«
»Nein!«
»Sie schleichen seit Monaten um dich herum, diese widerlichen …« Sein Gesichtsausdruck wurde kalt vor Zorn.
Meine Stimme bebte. »Warum konnte ich sie damals nicht sehen? Und warum konnte ich es heute?«
Ein seltsamer Ausdruck trat in seine Augen. »Du konntest sie früher nicht sehen, aber du konntest ihre Anwesenheit meist spüren, nicht wahr?«
Bei dem Gedanken, der mir kam, wurde mir schlecht. »Die schreckliche Einsamkeit?«, murmelte ich. »Die unerträglichen Gefühle, seit Monaten? Das ständige Verfolgt-Werden, obwohl niemand da war?«
»Es war jemand da. Du konntest sie nur nicht sehen.«
Ich hatte das starke Bedürfnis, mich zu übergeben. Zitternd griff ich nach einer Holzbank, um mich abzustützen.
»Der Tag, an dem ich den Unfall hatte«, murmelte ich schwach. »Das war kein Unglück, nicht wahr? Sie haben mich gejagt.«
Er nickte. »Es liegt in ihrer Natur, Verzweiflung und Tod zu verbreiten.«
»Doch du warst dort«, flüsterte ich. »Du hast mich gerettet.«
Er trat einen Schritt auf mich zu. Seine Stimme klang sanft und eindringlich. »Du spürst in deinem Innern, was sie sind. Kannst du auch spüren, was ich bin?«
Ich versank in der Wärme und Tiefe seiner hellbraunen Augen. Kraftlos sanken meine Knie ein, doch er fing mich, hielt mich aufrecht, und ließ meinen Blick nicht los.
Und langsam ergab alles einen Sinn. Die Verbundenheit, die ich mit ihm fühlte, das ursprüngliche Vertrauen, das ich ihm vom ersten Moment an entgegengebracht hatte, und die Geborgenheit, die ich in seiner Nähe empfand … alles war klar, so eindeutig, dass ich nicht glauben konnte, jemals daran gezweifelt zu haben.
Als er sicher war, dass mich meine Beine tragen würden, trat er ein paar Schritte zurück.
»Sieh mich an«, sagte er leise.
»Aber … ich sehe dich …«
Er
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