Unter goldenen Schwingen
Panik in meiner Stimme unüberhörbar. Noch bevor ich seinen Namen fertig ausgesprochen hatte, war der Engel an meiner Seite. Lautlos glitt er durch die Luft, ein Wirbel aus Weiß und Gold.
»Da ist …«
»Ich weiß.« Nathaniel nickte knapp, seine Gesichtszüge kalt und entschlossen.
An der Haustür wühlte ich mit zitternden Händen in meiner Tasche, um meinen Schlüssel zu finden. Doch Nathaniel wartete nicht so lange. Er bewegte seine Hand über das elektronische Türschloss und es entriegelte sich augenblicklich.
»Praktisch«, murmelte ich atemlos, als er die Tür aufriss und mich hindurch schob.
Als wir vor meiner Wohnung ankamen, ließ er mich gar nicht erst nach dem Schlüssel kramen, sondern öffnete die Tür sofort.
»Verzeih, aber ich will dich in Sicherheit wissen.« Er schob mich unsanft in die Wohnung und schloss die Tür hinter uns. Eine rasche Bewegung seiner Hand und die Tür verriegelte sich wieder.
Unterwegs war ich zu sehr in Panik gewesen, um Nathaniel richtig anzusehen; als ich ihn jedoch jetzt anblickte, erschrak ich.
Er war so voller Zorn, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. Ich schluckte schwer und hoffte, dass mir meine Stimme gehorchen würde.
»Was ist mit dir?«, flüsterte ich kaum hörbar.
Er blickte mich flammend an. Ich wich erschrocken einen Schritt zurück, und er zuckte zusammen, als hätte meine Furcht ihn wie ein Schlag getroffen. Er schloss für einen Moment die Augen, und nach ein paar Sekunden veränderte sich seine beängstigende Ausstrahlung, wurde friedlicher, und als er seine Augen wieder öffnete, hatten sie den ruhigen, tiefen Ausdruck, den ich kannte.
»Verzeih mir«, bat er, ohne sich mir zu nähern.
»Schon gut«, murmelte ich. »Es ist nur – ich habe dich noch nie so wütend gesehen.«
»Du sollst mich auch nie wieder so sehen«, flüsterte er.
Ich nickte. Da er sich nicht rührte, machte ich langsam einen Schritt auf ihn zu. Er zögerte – dann, als er sicher war, dass ich mich nicht mehr fürchtete, entspannte er sich ein wenig.
»Es war mein Fehler«, sagte er gepresst. »Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, dass dieser Kerl dir zu nahe kommt.« Der goldene Schimmer auf seiner Haut begann erneut zu pulsieren. »Nach dem, was er und seine Freunde dir antun wollten …« Seine Stimme bebte vor Wut. Er brach ab und ich konnte sehen, dass er seinen Zorn nur mit Mühe beherrschte.
»Es geht mir gut«, sagte ich leise. »Dank dir.«
Der Ausdruck seiner Augen veränderte sich. Langsam trat er einen Schritt näher. »Ich werde nicht zulassen, dass dir jemals jemand wehtut«, flüsterte er.
Mein Herz schlug schneller. Ein warmes Gefühl erfüllte meine Brust und gleichzeitig kribbelte mein Bauch. »Warum ist er aufgetaucht?«, fragte ich leise. »Ich dachte, das Inferniproblem wäre gelöst?«
Nathaniel sah mich überrascht an.
»Ich war heute bei Melinda Seemann«, erklärte ich kleinlaut.
»Ah . «
»Sie sagte mir, ich wäre infernifrei.« Ich schüttelte mich. »Klingt wie eine Krankheit.«
»Wir haben sie verjagt«, sagte Nathaniel nachdenklich. »Und sie schlagen normalerweise keine verlorenen Schlachten.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es nur Zufall, dass dieser Kerl aufgetaucht ist? Immerhin war er allein und er hat mir ja nicht gerade hinter einem Busch aufgelauert. Wir haben uns auf offener Straße gesehen.«
Nathaniel blickte mich zweifelnd an. »Unmöglich wäre es nicht …«, gab er widerwillig zu, » … aber nur ein Zufall?« Er schien nicht recht an diese Erklärung zu glauben.
»Menschen gehen nun einmal auf der Straße spazieren …«
»Dieser widerliche Kerl verdient diese Bezeichnung nicht«, stieß Nathaniel zwischen den Zähnen hervor.
»Ich wollte damit nur sagen, dass es keine Horde Inferni war, sondern nur …«
»Widerwärtiger menschlicher Abschaum«, knurrte Nathaniel.
»Das ist mir jedenfalls lieber als die echten Inferni.« Die Erinnerung an diese Kreaturen jagte mir eine Gänsehaut über den Körper. »Wenn es nach mir geht, will ich sie nie wiedersehen.«
Ich versuchte den Gedanken zu verdrängen, dass sie bis vor kurzem ständig um mich gewesen waren, mit ihren verwesenden Gesichtern und ihren hohlen schwarzen Augen. Nathaniel war bei mir, und ich war in Sicherheit. Das war alles, was im Augenblick zählte.
Ich streifte die Schuhe ab, warf meine beiden Jacken auf den Boden und marschierte in den Flur. Als ich in meinem Zimmer ankam, lehnte Nathaniel bereits an meinem
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