Unter goldenen Schwingen
doch mein Blick blieb auf halbem Weg hängen.
Nathaniel saß seelenruhig auf dem Gerüst des Basketballkorbs und seine Schwingen reichten bis halb zum Boden. Er winkte mir grinsend zu.
Komm – da – runter , dachte ich entsetzt.
»Ich glaube, ihr spielt heute Basketball!« Seine Stimme tönte quer durch den Saal und hallte von den Zuschauertribünen, als käme sie aus Lautsprechern.
Ich schloss gequält die Augen.
Alles in allem wurde es nicht gerade mein bestes Spiel. Normalerweise war ich recht gut in Basketball, doch an diesem Tag hatte ich Mühe, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern. Ich reagierte zu langsam, verpasste jede Möglichkeit auf einen Punkt und traf kein einziges Mal in den Korb. Bald war es nicht mehr nur Anne, die bei meinen Pässen die Augen verdrehte – auch den anderen fiel auf, dass etwas mit mir nicht stimmte. Meine Aufmerksamkeit wanderte ständig zu Nathaniel, der in aller Ruhe oben auf dem Gerüst des Korbs saß, auf den meine Mitschülerinnen einen Ball nach dem anderen warfen. Seine golden gesprenkelten Flügel glitzerten heller als das Sonnenlicht, das durch die schrägen Fenster an der Decke hereinfiel.
Irgendwann beschloss ich, dass es wohl das Beste war, wenn ich mich einfach aus den Ballwechseln heraushielt, und den anderen wenigstens nicht im Weg herumstand. Eine Zeit lang funktionierte meine Strategie recht gut, bis ich mich plötzlich unerwartet freistehend mit dem Ball wiederfand.
»Wirf schon, Victoria!«, schrie Anne.
Die Mädchen des gegnerischen Teams rannten auf mich zu und ich wandte rasch den Kopf, um die Distanz zum Korb abzuschätzen. Es war ein Wurf, den ich zu meinen besten Zeiten wahrscheinlich nicht geschafft hätte, ganz zu schweigen von heute.
Mit dem Mut der Verzweiflung beschloss ich, mein Glück zu versuchen. Ich zielte und warf – und mein Mund klappte auf.
Nathaniel schwang sich in einer geschmeidigen Bewegung von seinem hohen Sitz, breitete seine Schwingen aus und glitt mühelos über das Spielfeld. Er fing meinen Ball im Flug, änderte die Flugbahn etwas, so dass er direkt auf den Korb zuhielt, und ließ den Ball so präzise in den Korb fallen, dass er nicht einmal den Metallring berührte.
Meine Teamkolleginnen lösten sich aus der Starre, mit der sie meinen unmöglichen Wurf beobachtet hatten, und jubelten über den Treffer. Einige Sekunden später ertönte der Pfiff von Frau Lehner. Das Spiel war vorüber und ich stöhnte erleichtert.
Ich trödelte absichtlich etwas und trottete hinter den anderen als Letzte aus dem Saal.
Nathaniel landete lautlos an meiner Seite. »Guter Wurf«, grinste er.
Du weißt schon, dass das gemogelt war?
»Du hast meinetwegen das ganze Spiel lang einen Punkt nach dem anderen verloren. Ein Treffer war das Mindeste, das ich tun konnte.« Es klang beinahe schuldbewusst – wenn er dabei nicht tatsächlich gegrinst hätte.
Es war mit Abstand der seltsamste Schultag meines Lebens. Als die Glocke am Ende der letzten Stunde ertönte, warf ich erleichtert meine Sachen in meine Tasche und rannte beinahe aus der Klasse.
Nathaniel schloss auf der Treppe zu mir auf. »Das war nett«, sagte er mit unschuldiger Miene, während wir die Stufen hinuntergingen. »Ich freue mich schon auf morgen. Da haben wir Chemie, nicht wahr?«
Ich wollte gar nicht daran denken, was er alles in einem Chemielabor anstellen würde. Nathaniel grinste mich schief von der Seite an.
Ich blieb abrupt stehen, als plötzlich die Erkenntnis in mir dämmerte. Meine Augen wurden schmal. Du willst mich ärgern , dachte ich fassungslos.
Er lächelte. »Nein. Ich möchte, dass du Spaß hast.« Dann wurde sein Blick ernst. »Solange die Inferni dich bedrohen, werde ich an deiner Seite sein, und dich beschützen. Und ich habe die Hoffnung, dass es für dich vielleicht auch ein wenig unterhaltsam sein kann. Es wäre schrecklich für mich, dir eine Last zu sein.«
Oh …
Ich hatte das Gefühl, als hätte ich plötzlich ein riesiges Loch dort, wo gerade noch mein Magen gewesen war. Ich hatte keinen Moment daran gedacht, dass ich ihn verletzen oder beleidigen könnte, wenn ich ihn so offen spüren ließ, wie nervös ich mich in der Schule in seiner Gegenwart fühlte. Ich sah ihn entschuldigend an. Es tut mir so leid. Ich kann mich einfach nur schwer an den Gedanken gewöhnen, dass dich wirklich niemand sehen oder hören kann.
»Inzwischen solltest du endlich etwas Vertrauen zu mir haben«, lächelte er. »Und außerdem war es ein infernifreier Tag.
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