Unter goldenen Schwingen
Besorgnis. »Der Mathetest?«, sagte sie langsam. »Was ist denn los mit dir?«
»Der Test ist heute?« Verdammt.
»Dass die beiden im Reitstall nicht Mathe gelernt haben, wissen wir ja wohl alle.« Anne schüttelte den Kopf. »Aber du streberst ja schon seit dem Wochenende für den Test.«
Ich brachte ein wenig überzeugendes Lächeln zu Stande und trottete hinter Anne ins Klassenzimmer. Ich zweifelte stark daran, dass Herr Schulz an meinem Wissen über Engel interessiert war.
Während ich meine Sachen auspackte, sah ich aus dem Augenwinkel zu, wie sich Nathaniel entspannt an die hintere Wand des Klassenzimmers lehnte.
In der Klasse herrschte der normale Lärmpegel und das übliche Chaos vor Unterrichtsbeginn – und der Anblick war für mich unfassbar: meine Mitschüler, die direkt an Nathaniel vorbeiliefen, während er ihnen interessiert zusah und sich dabei recht gut zu unterhalten schien.
Als Herr Schulz hereinkam, verfiel die Klasse augenblicklich in die übliche Vor-Prüfungs-Starre.
»Ich habe mich entschieden, die Prüfung mündlich abzuhalten.« Schulz‘ monotone Stimme täuschte nicht darüber hinweg, wie sehr er sich freute, uns das Leben schwer zu machen. »Um das Ganze ein wenig spannender zu machen, werde ich jeden einzeln an die Tafel rufen. Ich hoffe, ihr seid gut vorbereitet.«
Die Klasse stöhnte auf.
»Sadist«, zischte Anne.
»Markus Schneider.« Schulz hielt ein Blatt Papier hoch. »Hier ist deine Aufgabe.«
Im Klassenraum herrschte Totenstille, als Mark sich erhob und langsam nach vorne zum Lehrertisch trottete. Er nahm Herrn Schulz das Blatt aus der Hand und starrte auf die Aufgabe.
Während ich, so wie die anderen, mit klopfendem Herzen zur Tafel sah und abwechselnd zwischen dem völlig planlosen Mark und dem kalt lächelnden Schulz hin und her blickte, gab es einen Moment, in dem ich tatsächlich vergaß, dass Nathaniel an der hinteren Wand lehnte. Bis er plötzlich seelenruhig durch die Klasse schlenderte, dann gemächlich nach vorne zur Tafel ging, um die Aufgabe in Marks Hand zu betrachten.
Es war so still in der Klasse, dass man eine Feder hätte fallen hören. Die Schüler starrten zwischen Herrn Schulz und Mark hin und her – direkt durch Nathaniel durch. Meine Kinnlade klappte in stummem Entsetzen nach unten.
In aller Ruhe trat Nathaniel neben Schulz und betrachtete die Unterlagen, die auf seinem Schreibtisch lagen. Er beugte sich ein wenig darüber und streckte dann seine Hand danach aus.
Lass das! zischte ich in Gedanken, während ich ihn aus zusammengekniffenen Augen fixierte, so als könnte ich ihn dadurch zwingen, mich anzusehen.
Er hob den Kopf und blickte mich erstaunt an. »Warum?« Der Klang seiner Stimme hallte durch den gesamten Klassenraum.
»Pst!«, machte ich automatisch, bevor ich mich stoppen konnte.
Alle drehten sich zu mir um.
Ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Während ich mich bemühte, möglichst glaubhaft zu husten, warf ich Nathaniel einen zornigen Blick zu. Er schmunzelte belustigt.
Sehr witzig , dachte ich giftig.
»Das war witzig.« Er grinste. »Mach dir keine Sorgen. Nur du kannst mich hören.« Seine Augen funkelten neckend.
Mein Zorn schmolz dahin – diesem Blick würde ich niemals widerstehen können. Das ist verrückt! Dich hier mitten im Klassenzimmer stehen zu sehen, mich mit dir zu unterhalten …
»Bis jetzt spreche nur ich. Willst du es nicht auch einmal versuchen? ›Pst‹ war schon sehr gut.«
Ich bleibe beim Denken, vielen Dank.
»Dann bin ich also unserer Abmachung enthoben? Ich darf offiziell deine Gedanken lesen?«
Ja, brummte ich in meinem Kopf. Für den Moment.
»Vielen Dank. Das macht die Dinge wesentlich einfacher.«
»Victoria? Brauchst du eine Extraeinladung?« Schulz‘ Stimme riss meine Aufmerksamkeit von Nathaniel fort. Ich war so fixiert auf meinen goldenen Engel gewesen, dass ich Herrn Schulz völlig ausgeblendet hatte, obwohl er direkt neben Nathaniel saß. Der Lehrer sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er musste denken, dass ich ihn absichtlich ignorierte. Die Klasse war vollkommen still.
Ich hatte das Gefühl, als hätte sich mein Magen in einen Eisblock verwandelt. Anne stieß mich mit dem Ellbogen an. Ich erhob mich langsam und ging zögernd zur Tafel, wie ein Tier zur Schlachtbank. Mark saß mit hochrotem Kopf wieder an seinem Platz. Schulz würde als nächstes mich in Stücke reißen.
Ich nahm die Aufgabe von ihm entgegen und starrte stumm auf das Blatt Papier.
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