Unter Korsaren verschollen
geraten ist?« fragt Luigi Parvisi mit zitternder Stimme.
»Alles!«
»Wo ist mein Sohn?« Luigi zwingt alle Kräfte, um den Mann genau beobachten zu können. Er will sich nicht allein auf das Gehör verlassen, Worte verstehen, sondern sie auch von den Lippen gebildet sehen. Die Stunde, da ein Mensch sterben soll, muß für einen anderen zur Stunde der Geburt werden, für seinen Sohn Livio. Befreiung aus der Sklaverei ist ja soviel wie neu geboren werden.
Die Unterhaltung ist stockend, mit Unterbrechungen.
Beide Sprechenden sind schwer verwundet. Selim hat den unbeschädigten Arm um El-Fransi gelegt, verhü-
tend, daß der Freund in einem Augenblick der Schwäche oder äußerster Erregung umkippt.
Benelli hält die Augen geschlossen. Er weiß, was man ihn fragen wird. Jetzt öffnet er sie einen Schlitz.
»Tot«, murmelt er. »Tot wie Ihre Frau, Signore Parvisi.«
»Tot? Tot? Mein Gott, tot!« stöhnt Luigi auf.
Es war die Antwort des Abenteurers, nicht des Landsmanns. Als das furchtbare Wort gesprochen ist, schlägt Benelli die Augen voll auf.
Wie Parvisi zusehends altert, altert durch eine gemeine Lüge. Soll sie widerrufen werden? Soll sie?
»Tot. Mein armes Kind!« klagt Parvisi, der Mann, den jung und alt als den furchtlosen Jäger El-Fransi kennt.
Dieser Mann weint.
El-Fransi weint hemmungslos.
Soll ich die Wahrheit sagen? Ganz frei von menschlichen Regungen ist auch der schuftige Benelli nicht. Weiter lügen, noch jetzt Schurke sein, wo das Leben nur noch Stunden, vielleicht nur Augenblicke gibt? so fragt sich der Renegat. Pah, mich rettet auch die nackte Wahrheit nicht mehr. – »Ja, tot!« beteuert er noch einmal. –
Sterben wie gelebt, alles eins! -»Grüßen Sie Agostino Gravelli von Benelli. Ich habe an ihn gedacht in dieser Stunde. Gravelli, der große Bankier, ist der Verräter, der den Deys alle ausfahrenden Schiffe meldete. Auch die
,Astra’ hat er uns angezeigt und besonders auf Sie und Ihre Familie hingewiesen. – Halt, sagen Sie Gravelli wörtlich: .Benelli, der Ratgeber des Deys, läßt Sie grü-
ßen und denkt jede Stunde an Sie!’ So wörtlich, Parvisi, und dann drehen Sie ihm meinetwegen den Hals um.
Daß ich tot bin, darüber haben Sie zu schweigen. Das ist alles. Und nun fort mit euch! Euer Anblick ist mir verhaßt. Laßt bei allem, was euch heilig und lieb sein sollte, Worte des Mitleids, des Trostes, Aufforderungen zu bereuen. Ich will allein sterben, ja verrecken, alles gleich.
Ich bin fertig. Nichts bereue ich, nichts! Könnte ich noch einmal leben, dann sollte die ganze Welt vor meinen Taten zittern und sich in Furcht, Schrecken und Gram winden! Fort, Luigi Parvisi, oder ich springe Ihnen mit der letzten, entfliehenden Kraft an die Gurgel! Fort, fort!«
Wenige Stunden später ist der große Bösewicht nicht mehr.
Selim häuft Steine über den Leichnam. Mustapha-Benelli war ein Mensch; die Raubtiere sollen nicht über ihn kommen können.
El-Fransis Freunde in Nord und Süd, in Ost und West, im ganzen Land warten vergeblich auf den Besuch des Jägers. Keiner sieht El-Fransi wieder. Seine Taten aber leben fort. El-Fransi wird zu einem Sagenheld in den Dörfern und an den Lagerplätzen. Man wird noch zu allen Zeiten von ihm sprechen.
DIE FREUNDE SIND ANDERER MEINUNG
Luigi Parvisis Oberarm ist zerschmettert, bleibt steif, gelähmt. Gelähmt ist auch die Tatkraft des Mannes. Das Leben hat den Sinn verloren, ist arm, leer, unwichtig geworden, seitdem die Gewißheit des Todes Livios besteht. Der Vater hält es für zwecklos, die Leiche, oder was von dem Kind noch übriggeblieben sein mag, zu suchen. Wie könnte er auch, ein Krüppel, erneut hinunter in das verfluchte Land gehen? Alles möchte er vergessen, auswischen aus seinem Gedächtnis, was in den vielen Jahren in Algerien geschehen ist. Aber es gelingt nicht. Stundenlang sitzt Luigi stumm in seinem Zimmer, nur von dem Wunsch beseelt, nicht gestört zu werden.
Wenn er so mit seinen trübseligen Gedanken beschäftigt ist, dann zieht sich auch Selim zurück.
Die Aufregung um die beiden Menschen im Hause Parvisi, den heimgekehrten Sohn und den Neger, ist abge-klungen. Andere, große politische Ereignisse haben sich in den Vordergrund geschoben, die wesentlich mehr Stoff für lange, ausgiebige Gespräche liefern als die kargen Angaben, die man von Luigi erhalten hat. Daß er das Kind gesucht habe und nun von seinem Tode wisse, war alles, was berichtet worden war.
Bald nach der Heimkehr ins Vaterhaus hatte Luigi
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