Unter Trümmern
Endlich konnte sie sprechen. Doch Brunner brachte sie mit einer knappen Handbewegung zum Schweigen.
„Ich weiß. Er hat sich umgebracht. Das ist traurig und schlimm, Dorle Becker. Möge er seinen Frieden gefunden haben. Wie du weißt, hast du es meiner Intervention zu verdanken, dass dein Sohn ein christliches Begräbnis erhalten hat. Der Pfarrer wollte das nicht. Das weißt du doch, oder? Aber das Leben geht weiter. Deines. Und auch meines.“
Brunner griff in die Tasche seines Jacketts und entnahm ihr einen Zettel, den er mit einer Bewegung aus dem Handgelenk auf den Küchentisch warf. Dabei verrutschte der Ärmel seiner Jacke und gab den Blick auf eine breite, goldene Uhr frei.
„Da ist die Adresse von Capitaine Jarrés. Melde dich dort.“
Als Dorle nicht reagierte, wurde Brunner lauter. „Hast du das verstanden, Dorle Becker? Ich habe dir geholfen und ich habe dich nicht gefragt, woher das Fleisch für deine überaus leckeren Lewwerknepp stammte, obwohl ich mir da so meine Gedanken gemacht habe … Und du willst doch sicher, dass ich die für mich behalte. Daher: Ich stehe bei diesem Herrn im Wort. Enttäusche mich also nicht. Und ich erwarte von dir, dass du im Haus des Offiziers Augen und Ohren offen hältst und mir alles mitteilst, was dort gesprochen wird. Hast du das verstanden?“
„Hast du das verstanden?“, wiederholte Brunner, nachdem Dorle wieder nicht reagiert hatte.
„Ja, ja“, antwortete sie leise.
„Dass du Französisch sprichst, darfst du dem Capitaine auf keinen Fall sagen. Tue so, als würdest du nichts verstehen. Aber merke dir genau, was gesprochen wird. Hast du das auch verstanden?“
Dorle nickte, hauchte noch leiser als vor wenigen Sekunden „Ja“.
„Gut so!“ Die beiden letzten Worte klangen wie eine Drohung. Ohne Gruß wandte er sich ab und verließ die Küche.
Dorle saß weiterhin auf ihrem Stuhl und starrte die Wand an.
Sie stand in der Küche neben einer Frau, die sie auf sechzig Jahre geschätzt hätte. Später war sie überrascht, als sie erfuhr, dass sie nur wenig älter als sie selbst war. Zum einen trug sicher ihre Kleidung dazu bei, die alt, abgetragen und viel zu weit war, zum anderen ihr verhärmtes Gesicht, das von Falten durchzogen war. Dorle hatte noch nie eine Frau gesehen, deren Mundwinkel so weit nach unten gezogen waren wie die der Köchin im Haushalt des französischen Offiziers. Es verlieh ihr etwas Grimmiges und schuf Distanz. Dorle hatte ihr, wie es ihr von Brunner aufgetragen worden war, verschwiegen, dass sie ihre Sprache beherrschte. Die Köchin kannte außer dem Wort „Schweinehund“ kein einziges deutsches Wort und es amüsierte Dorle, wenn sie „Sweineund“ sagte.
Aber die Blicke der Frau, die Elaine hieß, genügten ihr, um zu wissen, dass sie in ihr eine Konkurrentin sah und ihr mit Misstrauen begegnete. Deshalb versuchte Elaine von ihrer ersten Begegnung an klarzustellen, dass sie in der Küche das Sagen hatte. Und deshalb war Dorle in der Hauptsache mit dem Schälen von Kartoffeln, dem Waschen und Putzen von Salaten und dem Schneiden von Zwiebeln und Kräutern beschäftigt. Immerhin hatte sie in einer der vielen Schubladen in der großen Küche ein Klappmesser gefunden, das sie in einem Moment, als sie sich unbeobachtet fühlte, einsteckte. Sie würde es benutzen, wenn Neubert sich ihr noch einmal so nähern würde. Ihr ekelte dermaßen bei dem Gedanken an das Geschehene und sie fühlte sich in einem Maße erniedrigt, dass sie sich ermahnen musste, diese Waffe nicht gegen sich selbst zu erheben.
Als sich Capitaine Jarrés für den ersten Sonntag, den Dorle in seinem Haushalt arbeitete, die Lewwerknepp wünschte, die er Fastnachtdienstag bei Brunner genossen hatte, durfte sie zum ersten Mal das Regiment übernehmen. Elaine wich dabei keine Sekunde von ihrer Seite und beobachtete jede ihrer Handlungen. Und bevor die fertigen Lewwerknepp an den Tisch zu Capitaine Jarrés und seiner Familie gebracht wurden, ließ Elaine es sich nicht nehmen, vorzukosten und mit einem leichten Anheben ihrer Mundwinkel ihre Zustimmung anzudeuten.
Die Frau des Capitaines zeigte durch einen Laib Brot, ein Glas Marmelade und ein Stück Wurst, die sie Dorle persönlich in die Küche brachte, dass es ihr geschmeckt hatte.
An einem der nächsten Abende saß Dorle zu Hause in ihrer Küche und hatte sich eine Schnitte mit der Marmelade geschmiert, als Franzi vorbeikam. Sie hatte ihre Freundin seit dem gemeinsamen Abend nach der Beerdigung nicht mehr
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