Unter Trümmern
Zeit zu geben.
„Was ist der Grund dafür?“, fragte Franzi.
Dorle wollte zuerst nicht heraus mit der Sprache.
„Hast du einen Mann kennen gelernt?“, fragte sie und Dorle war überrascht, dass kein Vorwurf in ihrer Stimme lag.
„Ich weiß“, sagte sie, die diese Reaktion sehr wohl bemerkt hatte, „aber mit jedem Tag, den der Krieg länger zu Ende ist, wird die Wahrscheinlichkeit, dass Hans-Joachim zurückkommt, doch kleiner. Du bist noch nicht alt, Dorle“, sagte sie eindringlich, „du kannst jetzt nicht bis zum Ende deines Lebens alleine bleiben.“
Dorle schüttelte den Kopf.
„Was dann?“, hakte Franzi nach. „Ist doch in Ordnung. Musst dich nicht schämen.“
„Nein, nein!“, erwiderte Dorle, heftiger als sie das beabsichtigt hatte, aber nur, weil sie in diesem Moment unwillkürlich an diesen Kommissar und wie er sie in der Bäckerei angeschaut hatte, denken musste.
Franzi ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
Aber statt einer Erklärung stand Dorle auf und nahm aus einer Anrichte ein Stück getrocknete Wurst und legte sie vor Franzi.
„Was soll ich damit?“, fragte die.
„Für dich“, antwortete Dorle.
„Du musst das selbst essen“, ließ Franzi das nicht gelten. „Du hast doch selbst so wenig.“
Dorle schüttelte energisch ihren Kopf und ging wieder zu der Anrichte, aus der sie weitere Stücke Wurst, einen handtellergroßen Laib Käse und zwei Flaschen Rotwein nahm.
Franzi zog eine der Flaschen an sich heran und betrachtete das Etikett.
„Wo hast du die her?“
Dorle ließ sich auf ihrem Stuhl nieder und sah ihre Freundin einige Momente lang an, bevor sie zu erzählen begann, dass Brunner ihr den Job bei dem französischen Offizier besorgt hatte, allerdings unter der Bedingung, dass sie sich als Spionin betätigen sollte.
„Spionin?“, fragte Franzi, überrascht und irgendwie auch fasziniert.
Dorle wiegelte ab. „Na ja, ich denke für seine Schwarzmarktgeschäfte. Tipps oder so. Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, dass ich ihm da helfen kann.“
Doch da hatte sich Dorle getäuscht. Brunners Intervention bei Capitaine Jarrés war erfolgreich gewesen, denn zwei Tage nach ihrem Zusammentreffen vor der Kellertür kam die Hausherrin, die leidlich Deutsch sprach, zu Dorle, um ihr mitzuteilen, dass sie bei nichtoffiziellen Anlässen, das heißt, wenn nur die Familie zusammen aß, diese bedienen durfte.
Zweimal hatte sie schon Gelegenheit, das Mittagessen zu servieren. Doch da auch die Kinder von Jarrés am Tisch saßen, wurde nichts Dienstliches besprochen.
Mehrmals die Woche traf sich der Capitaine mit anderen Offizieren aus seinem Stab in dem Arbeitszimmer zu Besprechungen. Normalerweise servierte Elaine dort, doch als sie an einem Montag mit einer starken Erkältung niederlag, wurde Dorle aufgefordert, die Herren zu bedienen. Da alle davon ausgingen, dass Dorle Französisch weder sprach noch verstand und jede nötige Kommunikation bislang von Frau Jarrés gedolmetscht werden musste, übte die Runde der fünf Männer keine Zurückhaltung und sprach ungeniert weiter.
Alles verstand Dorle nicht, als sie den Cognac in die großbauchigen Gläser füllte, aber so viel, dass am nächsten Tag eine Razzia in einer ehemaligen Maschinenhalle in Mombach geplant war, wo Schwarzmarktgut vermutet wurde. Als nächstes sprachen sie über die Feierlichkeiten zur Eröffnung der Mainzer Universität, die in einer Woche stattfinden würde und zu der sich sowohl von französischer als auch von deutscher Seite eine große Anzahl honoriger Gäste angekündigt hatte. Unter den Offizieren begann eine rege Diskussion, ob dieser Schritt nicht zu früh kam oder ob es überhaupt ein Fehler war, den Weg in die Normalität für die Deutschen so einfach zu gestalten. Dorle wartete ungeduldig, dass die Runde sich auflöste, damit sie zu Brunner eilen und ihm das Gehörte mitteilen konnte. Als man ihr endlich das entsprechende Zeichen gab, verließ sie mit zitterndem Tablett das Arbeitszimmer und räumte die Gläser schnell in die Küche. Das war genau das, was Brunner wissen wollte, wenn sie ihn richtig verstanden hatte. Aber sie machte sich eines Verbrechens schuldig, das wusste sie auch. Plötzlich hatte sie das Gefühl, in einem Sumpf zu wandeln, in den sie immer tiefer hinabgezogen wurde. Der erste, entscheidende Fehltritt war gewesen, im März zu Brunner zu gehen. Alles Weitere hatte sich daraus ergeben. Ihr Versuch, das Fleisch beim Gerber zu stehlen, dass sie den Peter erstochen hatte und
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