Unter Trümmern
gesehen. Die Erinnerung daran rief ihr erneut und schmerzlich Neuberts Überfall ins Gedächtnis, den sie die letzten Tage erfolgreich verdrängt hatte. Nur aus ihren Träumen konnte sie ihn nicht vertreiben. Morgens wachte sie mit einem Gefühl der Beklemmung und Angst auf. Doch wenn sie sich fertig machte, um erst Rolfs Grab zu besuchen und mit einem Zweig oder einer Blüte zu schmücken, und anschließend zu dem Capitaine zu gehen, waren Angst und Beklemmung verschwunden.
Franzi stellte verwundert fest, dass ihre Freundin sehr in sich gekehrt war und offenbar keine Lust auf eine Unterhaltung hatte. Sie hatte gedacht, dass es Dorle nun, nachdem Rolf sein Begräbnis erhalten hatte, besser ginge. Sie blieb eine halbe Stunde, erzählte ein wenig und ging schließlich nach Hause.
Dorle fühlte sich bei der Arbeit wohl, sie hatte eine Beschäftigung, sie fand Anerkennung, auch Elaine wurde in Maßen zugänglicher, sodass die Schwermut mehr und mehr von Dorle abfiel. An einem freien Tag machte sie sich auf den Weg in die Stadt, um am Bahnhof zu schauen, ob es eine Nachricht von Hans-Joachim gab. Sie lief in dem Bahnhofsgebäude die Wand mit den Zetteln ab, aber schon bald gab sie auf und machte sich auf den Rückweg nach Gonsenheim.
Am nächsten Tag, einem Sonntag, war sie nach dem obligatorischen Grabbesuch wieder in der Küche von Capitaine Jarrés’ Villa. Elaine hatte sie in den Keller geschickt, um Wein aus dem Vorratsraum zu holen. Nachdem sie die geforderte Flasche gefunden hatte, stieg sie die Treppe hinauf und hätte oben angekommen vor Schreck fast den Wein fallen gelassen, als eine Hand sie von hinten an der Schulter packte.
„Guten Abend, Dorle Becker“, vernahm sie eine bekannte Stimme.
Sie drehte sich um und sah in das lächelnde Gesicht von Helmut Brunner, der seinen Griff etwas lockerte.
„Du hast dich gut eingelebt, wie ich gehört habe.“
„Ja“, bestätigte Dorle leise, die sich nicht wohl fühlte unter dem Blick dieses Mannes.
„Und sonst hast du nichts zu sagen?“, fragte er, nicht laut, aber offenbar ohne Furcht, dass der Hausherr etwas von ihrem Gespräch mitbekommen könnte.
Sie schüttelte leicht ihren Kopf.
„Nein, wirklich? Ich habe dich doch um etwas gebeten.“
Verständnislos sah sie ihn an.
„Du sollst deine Ohren und Augen offen halten. Machst du das auch?“
Dorle benötigte ein paar Sekunden, bevor sie verhalten nickte.
„Ich will dir mal glauben. Aber ich erwarte, dass ich nicht bei dir nachfragen muss, sondern dass du zu mir kommst.“ Er machte eine Pause, schien nachzudenken.
„Demnächst“, fuhr er fort, „wird ein Transport mit Medikamenten für die Franzosen kommen. Ich erwarte, dass du mir alles, was du darüber hörst, berichtest. Ich werde Capitaine Jarrés gleich beim Essen sagen, dass du mir mitgeteilt hast, dass du ihn gerne auch bedienen würdest. So kommst du in seine Nähe.“
Wieder antwortete Dorle nur mit einem Nicken. „Kannst du auch sprechen?“, fragte Brunner unwillig, der sie wieder fester am Arm packte.
„Ja, ich habe verstanden“, beeilte sich Dorle zu sagen.
Brunner zog sie nahe an sein Gesicht heran.
„Das hoffe ich, Dorle Becker. Du weißt, man soll die Toten ruhen lassen!“
Er verstärkte seinen Griff noch einmal, sodass Dorle vor Schmerz aufstöhnte. Der Mann ließ von ihr ab und ging, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, durch den weitläufigen Flur in das Esszimmer.
Dorle hörte das laute Lachen des französischen Offiziers, als Brunner die Tür hinter sich schloss.
Ihre Ruhe war dahin. Würde sie das Geschehene denn niemals loslassen? Würde es sie ihr ganzes Leben verfolgen? Nicht nur, dass Brunner sie aufschreckte, auch ihre Tat und ihre Verantwortung standen ihr mit einem Mal wieder vor Augen. Sie fürchtete sich nach Hause zu gehen, wo ihr vielleicht Neubert auflauerte. Sie fasste in die Tasche ihres Rocks und beruhigte sich ein wenig, als sie den Holzgriff des Messers mit ihrer Hand umfasste.
Doch Neubert ließ sich weder an diesem noch am nächsten Abend in der Nähe ihres Hauses blicken. Und als sie ein Ziehen im Unterleib spürte, das ein sicheres Anzeichen für das Herannahen ihrer Tage war, wusste sie, dass Neubert sie nicht geschwängert hatte.
So kam langsam wieder Ruhe in ihr Leben. Auch Franzi hatte sie besucht, die sich freudig verwundert zeigte, dass ihre Freundin einen solch ausgeglichenen Eindruck machte und es offensichtlich richtig gewesen war, ihr nach dem letzten Besuch ein wenig
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