Unter Trümmern
Leben eingekehrt. Sie genoss es sich draußen in der Sonne aufzuhalten und pflanzte in ihrem kleinen Garten Kartoffeln und Gemüse an, um Vorräte für den nächsten Winter anzulegen. Bei ihren Friedhofsbesuchen sammelte sie Holz. Jeden Tag brachte sie ein Stück mit und lagerte es hinter ihrem Haus unter dem Dachvorsprung. Mal eine Tasche voll mit kleinen Ästen, mal einzelne größere Stäme. Neubert hatte ihr nicht mehr aufgelauert. Sie hatte ihn zwei oder drei Mal aus der Ferne gesehen und einen großen Bogen um ihn gemacht. Franzis Sohn hatte ihr altes Radio repariert. Wenn es Strom gab, hörte sie den Südwestfunk. Seit Ende März war er auf Sendung. Dorle liebte klassische Musik. Dazu gab es Lesungen, die mochte sie besonders. Einmal hatte sie Auszüge aus Hermann Hesses „Der Weg zurück zu sich selbst“ gehört. Das hatte ihr gefallen. Oder Oscar Wilde, „Der ideale Ehemann“. Bei der Nennung des Titels wusste sie nicht, ob sie das hören wollte, aber schon nach wenigen Sätzen hatten der Text und die Stimme sie so gefangen genommen, dass sie nicht mehr aus der Küche ging, bevor die Lesung beendet war. Das gab ihr das Gefühl, dass eine Welt außerhalb existierte. Sie hörte auch Nachrichten, Neues von der Universität, die nach der Gründung langsam wuchs, von einem Motorrad- und Autorennen im Schwarzwald, wobei es ihr seltsam erschien, dass Menschen in diesen Zeiten ein Interesse für so etwas haben konnten und über das, was in Nürnberg verhandelt wurde, in den Kriegsverbrecherprozessen. Manchmal schaltete sie aus, zu schrecklich klang das, was sie da hörte von den Verbrechen, die in Deutschland und in den besetzten Gebieten begangen worden waren, und sie fragte sich, ob Hans-Joachim und die anderen Männer aus dem Ort, die sie kannte, sich daran beteiligt hatten.
Drei- bis viermal in der Woche ging sie zu Capitaine Jarrés und half dort in der Küche. Mit Elaine verstand sie sich mittlerweile recht gut, wobei die Frauen nicht miteinander sprachen, da Dorle weiterhin vorgab kein Französisch zu können und ihre Kommunikation daher aus Gesten und Handzeichen bestand. Brunner war nicht mehr mit einem Auftrag an sie herangetreten und sie hatte auch nichts mehr erfahren können, von dem sie glaubte, dass es für ihn von Interesse sein könnte. Obwohl man sie jetzt öfters servieren ließ, auch wenn Elaine im Haus war.
Zwei Tage nachdem sie Brunner von der geplanten Razzia berichtet hatte, fand sie in ihrer Küche ein Stück Fleisch, einen kleinen Sack mit Kartoffeln und fünf Packungen amerikanische Zigaretten. Das war die gängige Währung auf dem Schwarzmarkt, auf dem sie sich nicht auskannte. Trotzdem war ihr klar, dass da ein kleiner Schatz in ihrer Küche lag. Sie gab eine der Schachteln Franzis Sohn Karl, damit er sie gegen das, was ihre Freundin benötigte, eintauschen konnte und zwei versteckte sie in ihrem Schlafzimmer. Zwei ließ sie hinter einer Schale auf der Anrichte in der Küche.
Zum Friedhof ging sie jeden Tag und blieb immer lange an Rolfs Grab. Sie genoss die Ruhe unter den alten Bäumen, beobachtete die Eichhörnchen, die über den Waldboden liefen, behände einen Baumstamm hinaufkletterten, kurz innehielten, sich umschauten und flink weiterkletterten. Manchmal traf Dorle Frauen, die sie aus dem Ort kannte. Sie setzten sich auf eine Bank, ließen sich von der Sonne wärmen und unterhielten sich. Viele waren wie sie alleine, die Männer gefallen, vermisst oder in Gefangenenlagern, die meisten aber wie sie selbst ohne Nachricht. Zum Trauern blieb wenig Zeit, weil das tägliche Organisieren des Lebensnotwendigen viel Kraft und Energie erforderte. Unterschwellig hörte Dorle aus den Worten der anderen heraus, dass sie sich wunderten, dass sie, die früher als besonders gläubig galt, nicht mehr in die Kirche kam. Dorle erschrak darüber, weil sie den sonntäglichen Gang in die Kirche nicht vermisst hatte. Sie betete ja täglich, in ihrer Wohnung, im Keller, wo sie für Rolf die Gedenkstelle eingerichtet hatte, und an seinem Grab. An diesen Orten fühlte sie sich ihrem Gott näher als in der Kirche.
Zweimal war Dorle auf ihren Spaziergängen schon Frauen begegnet, denen man ansah, dass sie schwanger waren. Zuerst hatte sie das verwirrt. Ihr schien es seltsam, in diesen unsicheren Zeiten voller Not und Elend Kinder in die Welt zu setzen. Aber je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter wurde sie, dass es nicht so schlecht um sie und die Menschen um sie herum stehen konnte,
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