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Unter Trümmern

Unter Trümmern

Titel: Unter Trümmern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Heimbach
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wenn wieder Kinder geboren wurden. Es war ein Zeichen der Hoffnung, die es vielleicht auch für sie gab. Hoffnung auf einen Neuanfang. Sie war vierundvierzig Jahre alt und wusste, auch ohne dass Franzi es immer wieder betonte, dass sie jünger und gut aussah, dass die Männer sich nach ihr umdrehten. Sollte das Leben schon vorbei sein? Manchmal kam ihr der Kommissar in den Sinn. Noch immer konnte sie sich gut an seinen Geruch erinnern. Etwas Herbes, Angenehmes, wie nach Kräutern, hatte ihm angehaftet.
    An einem Montag, der Juni hatte seinen Zenit schon überschritten, war sie wieder an Rolfs Grab und zupfte Unkraut. Als sie fertig war, küsste sie wie jedes Mal das hölzerne Kreuz. Sie kniete nieder, schloss ihre Augen und begann die Zwiesprache mit ihrem Sohn.
    Als sie sich mit Tränen in den Augen erhob, fuhr sie zusammen. Kaum zwei Meter von ihr entfernt stand ein Mann und sah sie an. Sie hatte ihn nicht kommen gehört.
    Er lächelte sie auf eine Weise an, dass Dorle sofort klar war, dass er nicht zufällig an diesem Ort auftauchte. Sie betrachtete ihn genauer, überlegte, ob sie ihn schon einmal gesehen hatte, aber sein Gesicht weckte keine Erinnerung. Ein ausgemergelter Mann, dem sie ansah, dass er mal kräftiger gewesen war, dunkle Haare mit dem Ansatz einer Stirnglatze, etwa in Hans-Joachims Alter. Er trug einen fleckigen dunklen Mantel und seine Schuhe hatten auch schon bessere Zeiten gesehen. Quer über seine Schulter trug er eine Tasche.
    „Entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie erschreckt habe“, begann er das Gespräch. Er sprach leise, fast schüchtern, lächelte dabei ein wenig, ein jungenhaftes Lächeln, wie Dorle fand. „Mein Name ist Herrmann Bauer. Sind Sie Dorothea Becker, Dorle gerufen?“ Er blickte auf das dürre Kreuz auf Rolfs Grab. „Ich habe den Namen gelesen und dachte mir, dass Sie das sind. Ich war bei Ihnen zu Hause, aber da wurde nicht geöffnet. Eine Nachbarin sagte mir, dass ich Sie wahrscheinlich hier finde.“
    Bauer hatte weiter so leise und ruhig gesprochen, fast, als wäre es ihm peinlich, die fremde Frau auf dem Friedhof anzusprechen. Im Gegensatz dazu waren seine Augen in ständiger Bewegung, ein flackernder Blick, der überall gleichzeitig sein wollte. Zwischendurch weilte er für einen kurzen Moment auf ihr, bevor er wieder rastlos umherirrte.
    Dorle verschränkte ihre Arme vor der Brust und antwortete nur mit einem knappen „Ja.“ Woher kannte er ihren Namen? Woher wusste er, wo sie wohnte? Was wollte der Mann?
    „Hans-Joachim“, sagte er, sprach nicht weiter und sah Dorle an.
    Ihr Körper spannte sich. Sie nickte, ganz leicht nur.
    „Wir waren in einer Einheit. In der 31. Infanterie-Division unter Generalleutnant Ochsner.“
    „Lebt Hans-Joachim?“, fragte sie leise und ihr wurde schwindelig.
    „Ich glaube ja. Wir sind beide im Juni ’44 vor Minsk in Gefangenschaft geraten und kamen in ein Lager. Er war wie wir alle entkräftet, aber noch ganz gut beieinander. Als ich entlassen wurde, hat er mich gebeten, seine Frau aufzusuchen und ihr mitzuteilen, dass er lebt.“
    „Warum ist er noch nicht …?“ Sie stockte wieder. Wollte sie das wissen? Sie schämte sich, weil der Gedanke, dass ihr Mann auch bald vor ihr stehen könnte, sie nicht mit Freude erfüllte.
    „Da gibt es kein System. Es ist die reine Willkür.“ Bauer sah zum Boden. „Wie alles dort.“ Er machte eine Pause. Als Dorle nichts drauf erwiderte, sprach er weiter mit belegter Stimme. „Er kommt sicher bald raus. Vielleicht ist er auch schon auf dem Weg nach Deutschland. Aber das dauert immer.“
    „Und wie … geht es Ihnen?“
    „Müde bin ich. Sehr müde. Ich bin viel gelaufen.“
    „Wo … kommen Sie her?“
    „Kleve. Am Niederrhein. Dahin bin ich unterwegs. Meine Familie lebt da.“
    „Und Hans-Joachim? Was hat er gesagt?“
    Bauer kramte in seiner Tasche und entnahm ihr eine verknickte Zigarette, die er zwischen seinen Handflächen glatt rollte und mit einem Streichholz anzündete.
    „Er vermisst Sie. Er hat viel, viel Gutes erzählt. Er leidet sehr darunter, dass er seine Frau alleine weiß.“ Bauer schaute sie betrübt an. „Er fürchtet, dass Sie es sehr schwer haben. Wissen Sie, in den Lagern wird so einiges über die Zustände in Deutschland erzählt. Die Besatzungssoldaten, die … na ja, wie soll ich das sagen … keine Rücksicht kennen. Und die Frauen … man muss ja überleben …“
    Er sah Dorles erschrockenes Gesicht. Sie hatte an Neubert gedacht.
    „Nicht Sie. Auf

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