Unter Trümmern
nahm ein Taschentuch aus seiner Tasche und hielt es ihr hin.
Erst als er sich räusperte, bemerkte sie die Geste, nickte stumm und wischte sich die Tränen ab.
„Ich habe doch nicht …“ Plötzlich richtete sie sich auf. „War das der Neubert?“
„Es tut mir leid, Frau Becker“, sagte Koch. „Das darf ich Ihnen nicht sagen. Aber ich muss das jetzt noch einmal aufrollen. Also: Die Person, die Sie angezeigt hat, sagt aus, dass die Schmerzensschreie Ihres Sohnes immer zu hören waren, bis sie Anfang März plötzlich aufhörten. Da Sie den Tod Ihres Sohnes aber erst Ende März gemeldet haben, also etwa drei Wochen später, glaubt diese Person, dass Rolf schon vorher tot war und dass Sie … ja, nachgeholfen haben, weil Sie die Schreie nicht mehr ertrugen.“
Dorle schüttelte ihren Kopf. „Das macht eine Mutter doch nicht“, sagte sie.
Es fiel Koch schwer, in der Rolle des Polizisten zu bleiben. Er sah zu Siggi herüber. Der verstand.
„Was war in diesen drei Wochen, Frau Becker?“, fragte er.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht war er leiser. Er hat … viel geschlafen … manchmal auch, ja, gefiebert … er war wie weggetreten … Natürlich war das schwer für mich. Sehr schwer. Rolf hat sehr gelitten. Und ich bin allein … Mein Mann ist in Russland … ich weiß nicht, ob er noch lebt.“
„Wo haben Sie Ihren Sohn gefunden?“
Siggi fragte das sehr kühl. Aber Koch schien, dass es besser war, nicht zu viel Mitgefühl in die Fragen zu legen.
„Im Keller“, antwortete Dorle recht gefasst. „Er hat sich im Keller erhängt.“
„Würden Sie uns die Stelle zeigen?“
Dorle nickte und stand auf.
In dem Moment wurde die Tür zu der Kammer neben der Küche geöffnet. Ein hagerer Kopf blickte durch den Spalt, eine Zigarette im Mund.
Erstaunt sahen die beiden Polizisten zu dem Mann. „Wer sind Sie?“, fragte Koch.
„Das könnte ich Sie auch fragen.“
„Polizei. Also, wer sind Sie?“
„Ist ja gut. Herrmann Bauer. Ein Freund. Ich war mit Frau Beckers Mann in Russland. Er hat mich gebeten, nach ihr zu sehen. Ich habe Ihr Gespräch mitbekommen. Was Frau Becker sagt, stimmt. Ihr Sohn hat sich Ende März umgebracht. Schlimme Sache. Ich war an dem Tag nicht hier.“
Koch fiel Dorles verwunderter Blick auf.
„Ende März war das?“
„Ja, genau. Ende März.“
„Frau Becker!“ Siggi hatte seine Stimme etwas gesenkt. „Sie wollten uns die Stelle im Keller zeigen, wo …“
Koch und Siggi folgten ihr in den Hof, wo sie die beiden Männer durch das zweiflüglige Tor in den Keller führte. Bauer war in der Wohnung geblieben.
„Hier!“ Sie deutete mit ihrem Blick an die Decke, wo ein Haken in der Decke steckte, den ihr Mann vor vielen Jahren dort befestigt hatte. Kochs Blick blieb an der Kiste mit den Kerzen und dem Bild hängen, die noch immer dort stand.
„Hier … gehe ich her, um zu beten“, erklärte Dorle, die den Blick bemerkt hatte. „Als ich Rolf gefunden habe, habe ich ihn abgehängt und auf die Kiste gelegt.“
„Gehen wir wieder nach oben!“, schlug Koch vor, der spürte, dass die Frau wieder den Tränen nahe war.
„Frau Koch“, sagte er, als sie wieder im Hof standen. „Wir müssen solchen Anzeigen nachgehen. Haben Sie vielleicht neben diesem Herrn noch einen Zeugen, der Ihre Aussage bestätigen kann? Damit könnte ich meinen Bericht fertig machen und es wäre alles in Ordnung.“
Dorle überlegte nur kurz. „Franzi!“, sagte sie aus einem spontanen Impuls heraus. „Franziska Molitor. Sie ist meine Freundin und …“
„Ja?“, fragte Koch, überrascht, weil die Frau mitten im Satz aufgehört hatte zu sprechen.
„Nichts“, sagte die schnell. Sie nannte die Adresse.
„Und dieser Mann, Bauer“, Koch sprach leise, „wie lange bleibt der?“
Dorle zuckte mit der Schulter. In ihrem Blick lag etwas Verzweifeltes. Koch hätte ihr gerne etwas Aufmunterndes gesagt, aber er fand keine Worte.
„Auf Wiedersehen!“, sagte er schließlich und meinte es auch so.
Schweigend gingen die beiden Polizisten zu dem Vorkriegs-Opel zurück. Koch spürte, dass Siggi mehrmals zu ihm herüberschielte.
Im Wagen konnte er nicht mehr an sich halten.
„Kennen Sie die Frau, Herr Koch?“, fragte er.
„Wie kommen Sie darauf, Siggi?“, fragte der zurück.
„Sie waren …“
„Ja?“
„So anders.“
„Wie anders?“
„So jung.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Na ja, so schüchtern … und … unprofessionell.“
Beide schwiegen, bis sie den Vorort verlassen
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