Unter Trümmern
Fensterscheibe. Der kleine Riss, den er entdeckt hatte, als er in das Büro eingezogen war, hatte sich zu einem veritablen Spalt, der sich über die ganze Glasfläche zog, ausgeweitet. Das Glas war schon so milchig, dass er das Prasseln der Regentropfen mehr hörte, als dass er sie erkennen konnte. In seiner Hand hielt er eine Tasse Ersatzkaffee und sinnierte über sein Leben. Er war jetzt seit über einem halben Jahr wieder in Mainz. So lange hatte er seine Frau und seinen Sohn Émile schon nicht mehr gesehen und die Dämonen seiner Vergangenheit noch immer nicht besiegt. Vielleicht hatte er noch nicht einmal damit begonnen. Richtig begonnen, so, wie wenn man einen Kampf wirklich angehen und gewinnen will. Und einer der Dämonen lebte ganz in der Nähe und er konnte ihn nicht finden.
Er nahm Siggis Bericht und blätterte in den Seiten. Glodkowski und Eckes waren Cousins, hatten vor dem Krieg gemeinsam ein paar krumme Dinger laufen, aber nach ’33 hatte sich das Verhältnis abgekühlt. Mombach, wo die beiden Männer aufgewachsen waren, war ein Arbeitervorort, in dem viele Sozialdemokraten und Kommunisten lebten. Mit den Nazis zu paktieren, war verpönt. Dass Glodkowski für sie arbeitete, isolierte ihn. Um ’37 herum fing er an für den alten Brunner zu arbeiten. Als Eckes wegen seiner Brüche, die er weiter beging, ernsthafte Schwierigkeiten bekam, ließ Glodkowski seine Kontakte spielen, setzte sich für ihn ein und brachte ihn ebenfalls bei Brunner unter, wo er allerdings nicht lange blieb, weil er wegen seiner Trinkerei oft zu spät oder gar nicht auf der Arbeit erschien. Eckes hatte den Krieg ohne Verletzung überlebt und galt als Schwätzer und unsicherer Kantonist, der nach Kriegsende mit Schwarzmarktgeschäften überlebte.
Viel war das nicht. Koch klappte die Akte zu. Alles hing mit Glodkowski und Brunner zusammen, gegen den er nicht weiter ermitteln durfte, noch nicht einmal wusste, ob überhaupt noch gegen den Mann ermittelt wurde. Offiziell war der Überfall auf das Depot in Bodenheim als ungeklärt zu den Akten gelegt worden, wie das in diesen Tagen sehr häufig der Fall war, auch schon, weil es viel zu viele solcher Überfälle und viel zu wenige Polizisten gab. Es war ein Einfaches, solche Überfälle Banden von DPs in die Schuhe zu schieben. Dass der einzige mögliche Zeuge, Franz Hartmann, bei seiner Flucht aus dem Krankenhaus umgekommen war, erschwerte die Sache, und dass Arnheim den Vorsatz der Tötung nicht sehen wollte, erzürnte Koch. Zumal gerade hier eine Spur zu Brunner führte, weil der Mann für ihn gearbeitet hatte. Der tote Peter Gerber auf dem Hof dieses Bauern interessierte ihn am wenigsten. Das konnte tatsächlich ein Einbrecher oder eine Bande gewesen sein. Doch interessant wurde er durch die Verbindung zu Brunner. Die Männer kannten sich, jedoch musste Koch zugeben, dass es in einem solchen Ort nicht ungewöhnlich war, dass ein Bauunternehmer und ein Bauer und dessen Sohn sich bekannt waren. Vieles sprach dafür, dass der Mordversuch an Siggi auf das Konto von Brunner ging: In dessen Garage hatte man ihn überwältigt, in der Garage, in der ein Mercedes stand wie der, mit dem der Zeuge Franz Hartmann bei dem vermeintlichen Unfall umgekommen war, mit Absicht, dessen war Koch sich sicher. Die Flasche wiederum, die sie gefunden hatten, hatte er schon bei Gerber gesehen, der Brunner nachweislich kannte und bei dem Siggi die fehlenden Teile des Mercedes entdeckt hatte. Aber alle Beweise waren schon beseitigt. Der Mercedes entsorgt und auf den Ersatzteilen keine Fingerabdrücke. Und dann waren da noch der tote Eckes und der Puff und wieder war Glodkowski dabei. Aber er, Koch, hatte nichts in der Hand, dass ausreichte, um gegen ihn und Brunner anzugehen. Er durfte nicht einmal ermitteln. Das war ihm offiziell von Arnheim verboten worden. Und Glodkowski … wusste er mehr über das Schicksal seines Vaters? War er am Ende sogar dessen Mörder?
Statt den Fall zu klären, musste er dieser Denunziation eines alten Kerls namens Richard Neubert nachgehen, der eine Mutter anzeigte, weil sie angeblich ihren schwer kriegsversehrten Sohn umgebracht haben sollte. Einen zweiundzwanzigjährigen Jungen. Was hatte der vom Leben noch zu erwarten?
Vielleicht war Polizist doch der vollkommen falsche Beruf für ihn.
Um elf Uhr stand er mit Siggi vor dem schmalen Tor zu dem Haus von Dorothea Becker. Es hatte aufgehört zu regnen, aber der Boden war noch nass, in den vielen Löchern auf den Straßen und
Weitere Kostenlose Bücher