Unter Trümmern
„Thank you“ nahm Koch die Flasche entgegen.
„Der Lieutenant meint, dass das die beste Medizin gegen Infektionen ist.“
„Dann sollten wir uns bald impfen.“
„Sehe ich auch so.“
„Wann kommen Sie raus?“, fragte Reuber.
„Ende August, meint der Arzt. Ich muss aber noch ein paar Tage zu Hause bleiben.“
„Schöne Aussichten. Aber ich habe da noch was für Sie. Ein Geschenk.“
Reuber ging zur Tür und nahm das Paket, das er beim Eintritt dort abgestellt hatte.
„Noch was von Chavez.“
„Packen Sie es aus, Reuber!“, bat Koch.
„Ein Radio“, rief er überrascht aus, als Reuber ihm das Gerät entgegenhielt.
„Der Whiskey gegen die Infektionen und das Radio, damit Ihr Geist nicht einschläft, meinte Chavez.“
„Ein großzügiger Mensch, Ihr Lieutenant“, stellte Koch fest.
„Hauptmann, seit zwei Tagen ist er Hauptmann. Ja, eine Seele von Mensch. Kann aber auch mal fünf gerade sein lassen.“
Reuber schloss ihm das Gerät an.
„Strom ist ein Problem“, sagte er, als er fertig war. „Im Moment haben wir Glück.“
Aus dem Radio erklang eine traurige Melodie.
In den nächsten Tagen lief das Gerät, wann immer es Strom gab. Eine Nachricht erregte Kochs besonderes Interesse. Es wurde berichtet, dass in Mainz der Weinmarkt wieder eröffnet werde, wie vor dem Krieg auf dem Halleplatz am Rheinufer. 100.000 Liter habe der französische Stadtkommandant Louis Théodore Kleinmann zur Verfügung gestellt. Gegen Abgabe eines Abschnitts der Lebensmittelkarte erhalte jeder Erwachsene im Hotel Stadt Coblenz einen Gutschein zum Erwerb einer Flasche Wein.
Einen Tag vor seiner Entlassung bekam er Besuch von Franzi.
Es war ein warmer Samstag. Der Herbst kündigte sich an, die ersten Bäume hatten sich schon verfärbt und der Wind am Abend wurde kühler. Koch hatte einen Mantel auf den Rücksitz geworfen. Er konnte sich fast wieder beschwerdefrei bewegen, nur schnelle und abrupte Bewegungen musste er vermeiden.
Er hatte Siggi gebeten, ihm einen Wagen und zwei Blumensträuße zu besorgen. Der Junge war verwundert, weil sein Chef das Angebot, ihn gerne überall hinzufahren, abgelehnt hatte, ihm auch nicht verriet, wohin er wollte. Siggi fiel Kochs Ernsthaftigkeit auf, dazu trug er, als er ihm das Auto vorbei brachte, einen dunklen Anzug.
„Danke, Siggi“, sagte er, „wir sehen uns am Montag im Büro.“
Er stieg in den Wagen und schaffte es, ohne den Motor abzuwürgen loszufahren.
Er steuerte den Wagen auf die Rheinstraße und von dort in Richtung Worms. Osthofen war sein Ziel.
Dort angelangt betrat er das frühere Konzentrationslager, wohin man seinen Vater nach der Verhaftung gebracht hatte. Ob er hier oder woanders ermordet worden war, hatte er nicht herausfinden können. Aber er wollte, dass auch diese Wunde eine Chance zur Heilung hatte. Deshalb legte er vor der Mauer einen der beiden Sträuße nieder und gedachte seines Vaters.
Ihm war an den langen Tagen und Nächten im Krankenhaus, als er alleine und dem Tod nahe gewesen war, klar geworden, dass er mit seinem alten Leben abschließen musste, wenn sein neues eine Chance haben sollte. Glodkowski, der Peiniger seines Vaters, war tot, von ihm hatte er nichts mehr über die näheren Umstände erfahren können. Das, was er gesagt hatte, waren Verhöhnungen gewesen. Koch musste einsehen, dass Glodkowski ein Handlanger wie tausend Andere und dass sein Vater für ihn keine persönliche Angelegenheit gewesen war.
Während er vor der Mauer der ehemaligen Papierfabrik stand, fiel ihm ein, dass Reuber ihn bei einem ihrer ersten Gespräche zur Fastnacht eingeladen hatte. Plötzlich hatte er dieses Motto, von dem Reuber ihm erzählt hatte, wieder im Kopf, und es schien ihm so absurd wie wahr zu sein. „Lache unter Tränen“ – die Hoffnung nicht aufgeben, in die Zukunft schauen, ohne die Vergangenheit zu vergessen. Wie sonst sollte man überleben, wie sonst seine Erfahrungen weitergeben? Darum musste es gehen. Seine Erfahrungen weitergeben, das Geschehene nicht vergessen, aber sich nicht davon beherrschen lassen.
Nach einer Stunde ging Koch zurück zum Wagen, um wieder nach Mainz zu fahren. Fast schien es ihm, dass der folgende Gang schwerer war als der, den er gerade gegangen war.
Der Radiobericht hatte ihn auf die Idee gebracht. Auch das empfand er als ein Zeichen für den Neubeginn.
Er hielt vor Dorles Haus, nahm den zweiten Blumenstrauß vom Rücksitz und klopfte an das schmale Tor des Hauses am Ortsrand von Gonsenheim.
Es dauerte
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