Unter Trümmern
Erstarrung erwachte, wusste sie nicht, wie lange sie so da gesessen hatte. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Kalt war es in der Wohnung geworden, weil sie den Herd nicht mehr befeuert hatte, der zumindest für ein klein wenig Wärme sorgte.
Sie stand auf und ging zur Tür. Draußen war es dunkel. Sie musste den ganzen Tag auf ihrem Stuhl in der Küche gesessen haben.
Sie wünschte, dass dies immer noch ein Traum war, aber sie konnte sich nicht mehr belügen. Rolf war tot, hatte sich im Keller aufgehängt, weil er seine Schmerzen nicht mehr ertragen hatte, weil sie nicht zu Hause gewesen war, als ihr Sohn sie am dringendsten gebraucht hatte. Zwei Menschen hatte sie nun auf dem Gewissen. Peter. Und ihren eigenen Sohn Rolf.
Was sollte sie ihrem Mann sagen, wenn der aus der Gefangenschaft zurückkam? Wenn der seinen Sohn sehen wollte, wenn er wissen wollte, warum Rolf nicht mehr lebte, wie er umgekommen war. Würde er überhaupt bei ihr bleiben, wenn sie so versagt hatte?
Dorle stand auf, sah sich verstört in dem kleinen Zimmer um und legte sich auf die Couch, die vor dem Fenster stand und auf der Hans-Joachim manchmal gesessen hatte, wenn sie das Essen zubereitete. Sie zog die Decke über sich und schlief ein. Schlief, bis sie durch ein Geräusch geweckt wurde. Das Geräusch wiederholte sich mehrmals und es dauerte eine Weile, bis sie verstand, dass da jemand an ihre Hoftür klopfe.
Sie setzte sich auf, aber zu mehr war sie nicht fähig. Sie blieb so sitzen, hörte es noch zweimal klopfen, dann blieb es ruhig.
Irgendwann stand sie auf und ging an den Schrank, nahm die alte Dose mit den Resten der getrockneten Brennnesseln, feuerte den Herd mit ein paar dürren Ästen an und setzte Wasser auf. Sie verspürte Hunger, aber sie war nicht fähig, sich aus dem Wenigen, was sie noch besaß, etwas zuzubereiten.
Der Tee tat ihr gut, belebte sie, wärmte ihren Körper. Sie ging in den Keller. Rolf hing da. Irgendwo hatte sie einen winzigen Rest Hoffnung gehabt, dass es doch nur ein Traum gewesen war, aus dem sie gerade erwacht war. Aber das war Wunschdenken. Rolf war tot und nichts würde ihn mehr lebendig machen. Sie kniete sich auf den kalten Boden, hob ihren Kopf, sah zu ihrem toten Sohn auf und senkte die Lider, um zu beten. Sie betete für Rolf und bat um Vergebung, flehte, dass sie für ihre Taten nicht auf ewig in der Hölle schmoren musste.
Als sie sich wieder erhob, hatte sie einen Entschluss gefasst. Rolf konnte so nicht hängen bleiben. Sie musste ihn aus der Schlinge befreien.
Im hinteren Teil des Gewölbekellers stand eine Holzkiste, die einen halben Meter hoch war und die Form eines Sarges besaß, wie sie erschrocken feststellte, als sie ihn aus der Ecke gezogen hatte. Darin befanden sich alte, zerschlissene Werkzeuge, die Hans-Joachim nicht hatte wegwerfen wollen. Wie er überhaupt ungern etwas weggeworfen hatte. Dorle erschrak, als sie bemerkte, dass sie von ihrem Mann in der Vergangenheitsform dachte. Und dass es ihr nicht einmal wehtat. Schnell räumte sie alles aus der Kiste, um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen, und schob das leere Holzteil über den Steinboden unter die Leiche. Dorle kletterte auf die Kiste, wobei sie sich einen Splitter in den Daumen rammte. Sofort rann ein dünner Blutfaden über ihre Hand. Sie zog den Splitter mit den Zähnen aus der Wunde, spuckte ihn auf den Boden und wischte sich das Blut an ihrem Rock ab.
Dann stand sie vor Rolf. Es kostete sie Überwindung, in sein Gesicht zu sehen. Ausdruckslos und tot starrten Rolfs Augen sie von oben an. All ihre Schuldgefühle waren darin gebündelt. Mit einer schnellen Bewegung fuhr sie ihm mit der Innenseite ihrer rechten Hand über das Gesicht und schloss seine Augen. Sie versuchte das Seil um seinen Hals zu lösen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Zu fest saß die Schlinge, zu sehr drückte Rolfs Gewicht auf den Knoten. Dorle stieg von der Kiste und lief durch den Keller, bis sie eine kleine Kiste gefunden hatte, die sie auf die größere wuchtete und darauf kletterte. Es war eine wackelige Angelegenheit und sie musste sich an Rolfs Körper festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und von den Kisten zu stürzen. Mit einer Hand hielt sie sich an ihm fest, mit der anderen versuchte sie das Seil am Hals zu lösen. Ihre Augen waren jetzt direkt vor Rolfs Gesicht, sie hätte ihm einen Kuss auf die Stirn hauchen können, aber sie wagte es nicht. Bei dem Versuch, den Knoten zu lösen, kam sie mit seiner Haut
Weitere Kostenlose Bücher