Unter Trümmern
Bett und schon bald fiel ihm das Buch aus der Hand und er schlief ein.
Am nächsten Morgen fühlte Koch sich frisch und spätestens, als ihn auf der Straße ein kalter Windstoß im Gesicht traf, ausgeschlafen. In der Nacht hatte die Kälte noch einmal angezogen und die Straßen waren an vielen Stellen glatt. Koch schlitterte mehr, als dass er ging.
Im Büro erledigte er zuerst den Papierkram, froh alleine zu sein und machte sich gegen zehn Uhr auf den Weg nach Gonsenheim. Er konnte einen der Kollegen aus der Autohalle überreden, eine Probefahrt dorthin zu machen und ihn zu chauffieren. Zurück würde er die Straßenbahn nehmen, die seit einiger Zeit wieder diese Strecke befuhr.
Der Fahrer klärte Koch über technische Einzelheiten des Wagens auf. Er ließ ihn reden, hörte kaum zu und brummte nur ab und zu etwas Zustimmendes. Er war froh, dass er an diesem Vormittag alleine war, dass er Siggi mit der Überprüfung der Mercedes-Besitzer losgeschickt hatte und somit Zeit zum Nachdenken hatte. Über den Fall, über Siggi und sich. In dieser Reihenfolge.
In der Nähe des Rathauses, unmittelbar beim Rheinhessendom, stieg er aus und ging die Straße zurück zu dem Hof von Gerber. Einige Leute, die ihm entgegenkamen, blickten ihn neugierig an. Viele von ihnen trugen Rucksäcke. Für ihre Hamstertouren, dachte Koch.
Das Tor zum Gerberhof war verschlossen. Er lief weiter bis zur Koblenzer Straße und am Gonsbach zurück zur Rückseite des Gebäudes. Die Hintertür war ebenfalls verschlossen. Die Mauer war drei Meter hoch und nur mit einer Leiter zu überwinden. Koch suchte im Boden nach Spuren, aber er konnte nichts dergleichen finden.
Langsam marschierte er zurück und klopfte an der Tür des Wohnhauses, das dem Gerberhof gegenüberlag. Eine etwa sechzigjährige Frau öffnete ihm.
„Sie waren doch gestern schon hier“, stellte sie statt einer Begrüßung fest.
„Mein Kollege war hier“, korrigierte Koch. „Ich möchte …“
„Ja, ja, Ihr Kollege, so ein Junger. Aber Sie waren doch auch da. Ich habe Sie doch gesehen.“
„Da haben Sie Recht“, stimmte Koch ihr zu. „Aber manchmal kommen einem doch noch Fragen, wenn man schon weg ist. Darf ich hereinkommen?“
Unsicher sah sich die Frau um, dann nickte sie kräftig und ging vor.
„Machen Sie die Tür zu!“
Koch folgte ihr in die Küche. Sie lag zur Straße und er entdeckte sogleich das Kissen, das auf dem Fensterbrett lag.
„Die Gerbers sind Ihre Nachbarn?“, begann Koch vorsichtig das Gespräch. Die Frau hatte ihm keinen Platz angeboten.
„Ja, ja. Nachbarn.“
„Bekommen Sie viel mit, was bei den Gerbers passiert?“, fragte Koch mit gesenkter Stimme.
„Bei Gerbers? Woher soll ich das wissen?“
„Sie sind die Nachbarin. Da bekommt man doch was mit.“
„Also, nein, ich mache so was nicht.“
„Gute Nachbarn passen aufeinander auf. Sehen Sie, Frau …?“
„Weinold. Gerda Weinold.“
„Ja, Frau Weinold, gute Nachbarn passen aufeinander auf, damit niemand einbricht, niemand etwas stiehlt, damit einfach nichts passiert, was nicht passieren darf. In diesen Zeiten muss man doch besonders gut aufpassen!“
Es war nicht Kochs Art, so vorsichtig zu agieren und das strengte ihn an. Aber er wusste, dass er bei dieser Frau nur so weiterkommen würde.
„Der arme Peter“, sagte die und bekreuzigte sich.
„Ja, ja“, stimmte Koch unwillig zu. „Aber Sie kennen die Familie Gerber doch. Haben die Feinde? Hatte der Peter mit jemand Streit. Geld? Ein Mädchen?“
Gerda Weinold schüttelte heftig den Kopf.
„Aber den Gerbers geht es doch gut. Das sieht man.“ Koch machte eine kleine Pause. „Sind die denn großzügig?“, fragte er plötzlich.
„Die Gerbers?“ Gerda Weinold lachte kurz und schrill auf. Es war, als ob Koch einen Schalter umgelegt hätte. „Geizhälse sind das. Ich könnte hier verrecken, die würden mir nichts geben. Das war schon vor dem Krieg so. Und das ist jetzt noch schlimmer. Wissen Sie, Herr Kommissar, die Bechtoltsheimer, zwei Häuser weiter, die sind auch Bauern, aber die sind anders. Die geben. Das sind Nachbarn. Aber der Gerber. Der ist doch gleich in die Partei und hat …“
Sie stockte. Koch hakte gleich nach.
„Ja, was ist mit dem?“
Es war zu spät. Gerda Weinold hatte gemerkt, dass sie sich hatte hinreißen lassen.
„Man soll über Tote nichts Schlechtes sagen. Auch der Peter hat Schlimmes erlebt.“ Sie wartete einen Moment, bevor sie weitersprach. „Der Krieg macht Bestien aus den Menschen.
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