Unter Trümmern
Mann geht mit seiner Wunde zu einem Kameraden. Der würde ihm helfen. Verstehen Sie jetzt?“
Siggi schüttelte verwirrt den Kopf.
Koch ließ sich wieder einen Moment Zeit, bevor er weitersprach. „Der Mann war in der SS. Schutzstaffel. Die kennen Sie doch, Siggi, oder? Ja?“
Siggi nickte.
„Die Totenkopfverbände der SS haben sich ihre Blutgruppe auf den linken Oberarm tätowieren lassen.“ Er sah seinen jungen Kollegen an. Der nickte erneut kurz, dass er verstanden hatte. „Und jetzt haben diese Mörder alle ein sehr großes Problem: Man erkennt sie sofort an ihrer Tätowierung. Also, was machen sie?“
Koch wartete nicht auf Siggis Antwort. „Sie machen sie weg. Und am unauffälligsten ist eine Kriegswunde, eine Schussverletzung. Diese Kerle fügen sich selbst an der Stelle eine Schusswunde zu oder lassen das jemand anderen machen.“
Einen Moment lang sagte Siggi nichts.
„Und Sie?“, begann er zaghaft. „Sie haben einen so großen Hass …“
Koch sah kurz zu dem jungen Mann hinter dem Lenkrad herüber, der in diesem Moment auf ihn wirkte, als sei er nicht von dieser Welt. Oder zumindest nicht aus dieser Zeit. Oder ein verdammt guter Schauspieler.
„Fahren Sie los!“, sagte er streng.
Schweigend steuerte Siggi den BMW in die Autohalle. Grußlos stieg Koch aus und verschwand in Richtung Hauptgebäude.
Als der junge Kollege eine halbe Stunde später in sein Büro kam, bat er ihn, alle Besitzer eines Mercedes 170 im Mainzer Stadtgebiet zu ermitteln. Als er wieder alleine war, lehnte er sich zurück und dachte über seine beiden Fälle nach, wobei er sich mit dem toten Peter Gerber weniger befasste, obwohl es ihm ein Rätsel war, warum man die Leiche vom Tatort weggeschleift hatte.
Zwei Stunden später kam Siggi mit einer Liste, auf der sechs Namen und Adressen aufgelistet waren.
„Sie fahren doch gerne Auto“, sagte Koch.
„Kann man so sagen.“ Er war froh, dass sich sein Chef offenbar wieder beruhigt hatte. Er hatte, während er die Listen nach den Besitzern des Mercedes-Modells durchging, immer wieder an die Szene in den Büschen und ihr Gespräch und Kochs düsteren, aggressiven Gesichtsausdruck denken müssen.
„Sie fahren zu den Personen auf der Liste, schauen sich die Besitzer an, fragen, wo sie beziehungsweise ihr Wagen gestern waren und untersuchen die Autos auf mögliche Schäden durch den Unfall. Verstanden?“
Siggi nickte eifrig. Dass er wieder Auto fahren durfte, war das eine, aber es machte ihn mächtig stolz, dass er allein losziehen durfte und dass Koch ihm offenbar doch etwas zutraute.
Der hatte sich lange nicht in dem Maße beruhigt, wie Siggi das dachte. Er wollte den jungen Mann aber nicht noch mehr verunsichern, deshalb hatte er sich zusammengerissen. Aber kaum war er allein, überkam ihn der Ekel vor dem Mann in den Büschen. Und vor der Verlogenheit dieser Zeit.
Ihm fehlte in diesem Moment jeder Optimismus. Er fürchtete, dass solche Männer bald wieder das Sagen haben würden.
Als er am Abend die Tür zu seiner Wohnung in der Zahlbach aufschloss, war er fast enttäuscht, dass sich die Tür zu Georgs Wohnung nicht öffnete und die Einladung auf einen Absacker ausblieb. Er war aber nicht in der Stimmung, alleine zu sein und sich sein Hirn zu zermartern. Er wollte den Tag mit einer großen Besinnungslosigkeit beenden. Deshalb klopfte Koch zum ersten Mal, seitdem er in der kleinen Wohnung in der Zahlbach wohnte, bei Georg. Es dauerte einen Moment, bis der dünne Mann ihm öffnete. Er wirkte verwirrt, seinen Nachbarn vorzufinden.
„Was ist?“, fragte er und sah unruhig hinter sich.
Koch war so überrascht über dieses Verhalten, dass er zunächst gar nichts von dem hörte, was aus Bressons Wohnung zum Eingang drang. Ein kiecksendes, weibliches Lachen und eine dunkle männliche Stimme, die etwas Befehlsmäßiges hatte.
„Nein nichts. Ich wollte einen Absacker … aber … nichts für ungut.“
„Tut mir leid“, entschuldigte sich Bresson, „heute ist es schlecht. Ich habe Besuch.“ Dabei sah er wieder hinter sich.
Einmal meinte Koch, einen Blitz in der Wohnung gesehen zu haben.
Er winkte ab, verabschiedete sich kurz und ging an seine Wohnungstür.
„Die nächsten Tage wieder gerne“, rief ihm Bresson nach.
Koch reagierte nicht darauf, öffnete die Tür und schloss sie schnell wieder.
Der Vorfall beschäftigte ihn an diesem Abend nur kurz. Um acht Uhr lag er mit einer französischen Übersetzung von Hemingways „Wem die Stunde schlägt“ im
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