Unter Trümmern
ein. Suchte dieser Mann noch immer den Mörder von Peter? Wenn er das tat, war sie für ihn eine Verdächtige? Was wäre, wenn nicht der tote Peter …? Wie alt mochte dieser Kommissar sein? Sie versuchte sich seine Gestalt und seine Züge in Erinnerung zu rufen, als sie ihn gesehen hatte, kurz nur aufrecht, dann hatten sie sich ja gegenseitig zu Boden gerissen. Er musste so alt wie sie sein, vielleicht ein wenig jünger. Sie versuchte sich seine Züge am Bahnhof in Erinnerung zu rufen, als sie ihn da in den Streit verwickelt erblickt hatte, dieses ernste, entschlossene Gesicht. Aber sie hatte ihn kaum sehen können. Es war mehr eine Ahnung. Was sie sofort erkennen würde, war sein Geruch. Sie hatte ihn in ihrer Nase, seit sie auf dem Mann gelegen hatte. Sie hatte schon immer eine feine Nase gehabt. Und diese hatte sie bislang nur selten getrogen. Als sie sich dabei ertappte, dass sie überlegte, ob dieser Kommissar ihr gefiele, vertrieb sie diesen Gedanken gleich wieder und machte, dass sie schnell aus der Bäckerei kam.
Auf dem Friedhof, auf dem Weg zu Rolfs Grab, fiel ihr das wieder ein. Langsam zog der Zug an den alten Gräbern vorbei. Im Vorbeigehen erhaschte Dorle schnelle Blicke auf die Grabsteine, las Namen, die sie kannte, sah Gesichter von Menschen, die mit ihr groß geworden waren und die der Krieg aufgefressen hatte.
Endlich hatten sie das offene Grab erreicht. Nachdem alle sich darum versammelt hatten, begann der Pfarrer nochmals mit einer Rede. Dorles Glücksgefühl, Rolf nun ordentlich beerdigt zu wissen, war so groß in diesem Moment, dass sie den Worten des Pfarrers abermals kaum zuhörte und Tränen über ihre Wangen liefen.
Die vier Männer ließen den Sarg in das ausgehobene Grab. Der Pfarrer sprach nochmals einige Worte, segnete die Grabstätte und stellte sich anschließend neben Dorle. Nach und nach traten die Menschen vor, nahmen mit der Hand etwas von der Erde, die zu einem kleinen braunen Hügel aufgehäuft war, und warfen sie in das offene Grab, gingen zu Dorle, gaben ihr die Hand oder umarmten sie. Manche flüsterten ihr dabei aufmunternde Worte ins Ohr. Franzi war die Erste und Dorle umarmte sie fester, als sie es vorgehabt hatte und ihr „Danke!“ an die Freundin kam so laut über ihre Lippen, dass es auch die Umstehenden hörten.
So ging es weiter, dass Dorle schon glaubte, der Zug der Kondolierenden würde gar nicht mehr aufhören, als plötzlich jemand ihre Hand länger als nötig festhielt, ja sogar so fest drückte, dass es sie schmerzte. Dorle sah auf und blickte in das steinerne Gesicht von Neubert, der sie streng mit seinen Augen ansah und so nahe an sie herantrat, dass keiner der Umstehenden in der Nähe hören konnte, was er ihr ins Ohr flüsterte.
„Der Herrgott meint es gut mit dir, Dorle Becker. Viel zu gut. Strapaziere nicht dein Glück. Wir sehen uns bald.“
Er löste sich von ihr, lächelte sie an, gab dem Pfarrer die Hand und trat zur Seite.
Dorle hatte diese Begegnung so sehr zugesetzt, dass sie einige Minuten wie erstarrt vor dem Grab stand.
„Frau Becker, wir können gehen!“, hörte sie den Pfarrer sagen, der sie sanft an der Schulter gepackt hatte.
„Ja, ja“, sagte sie schnell und sah sich um. Die Menschen hatten sich verteilt, Neubert konnte sie nirgends sehen.
„Komm!“, hörte sie Franzi neben sich sagen. „Wir müssen gehen. Ich habe bei mir etwas vorbereitet.“
Mit wenigen Leuten gingen sie zu Franzi nach Hause, die einen Kuchen gebacken hatte und Buchenkaffee servierte. Der Pfarrer war nicht mitgekommen. Dorle stand noch immer neben sich. Neuberts Worte hatten sich tief eingegraben und sie ekelte sich vor ihm. Sie zögerte es lange heraus nach Hause zu gehen, aus Furcht, dass der Mann ihr auflauerte. Doch Franzi kümmerte sich so rührend um sie, dass mit dem fortschreitenden Abend die Furcht nach und nach von ihr abfiel und sie gelöster wurde.
Am Ende saßen die beiden Frauen alleine am Tisch und tranken von dem Holunderschnaps, den Franzis Sohn Karl heimlich gebrannt hatte. Nach dem dritten Glas begannen sie sogar zu kichern und nach dem vierten bat Franzi ihren Sohn, die Freundin nach Hause zu bringen.
Dorle schlief endlich mal wieder traumlos in dieser Nacht.
8. April – 22. Mai 1946
XIII
Dass es Siggi so schwer erwischt hatte, machte Koch mehr zu schaffen, als er gedacht hatte. Da waren die Selbstvorwürfe. Warum hatte er den jungen, unerfahrenen Mann alleine die beiden Ganoven beschatten lassen? Er wusste doch, dass
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