Unter uns Pastorentoechtern
jenem Sonntag ging es im Evangelium um die Geschichte von den beiden blinden Männern, die von Jesus geheilt wurden. Ich hob zu einer, wie ich meinte, anschaulichen Nacherzählung der Geschichte an.
„Eines Tages ging Jesus durch ein Dorf“, sagte ich, „und zwei Männer riefen ihm ständig zu: ,Hab Erbarmen mit uns!’ Die Jünger gingen zu den beiden Männern und sagten: ,Hört auf, so zu schreien, laßt Jesus in Ruhe.’ Als Jesus seine Jünger so reden hörte, sagte er ihnen, sie sollten den Mund halten. Dann fragte er die beiden Männer: ,Was wollt ihr, daß ich für euch tun soll?’“
Ich hielt inne und stellte dann die schwachsinnigste Frage, die ein Lehrer seiner Klasse hätte stellen können.
„Was, meint ihr, fehlte diesen beiden Männern?“
Tommy Harris meldete sich zu Wort.
„Taubstumm“, schlug er vor.
David Eynon schnaubte verächtlich.
„Wie konnten sie taubstumm sein, wenn sie riefen?“ fragte er höhnisch.
„Los“, sagte ich, „noch eine Antwort.“ Ich sah buchstäblich, wie in Matthews Augen ein Geistesblitz aufleuchtete.
Er warf dem jungen Meister Eynon einen Blick zu, der zu sagen schien: „Jetzt paß auf.“
Dann platzte er mit seiner triumphierenden Antwort heraus.
„Gastroenteritis“, verkündete er. Der Rest der Klasse, einschließlich David Eynon, sperrte die Mäuler auf. Über ein so langes Wort aus einer so unvermuteten Quelle konnten sie nur staunen.
„Ein guter Gedanke, Matthew“, sagte ich. Er strahlte. „Aber ich fürchte“, fuhr ich fort, „er trifft nicht ganz zu. Um weiteren Spekulationen vorzubeugen, will ich euch lieber gleich sagen, daß die beiden Männer blind waren.“
„Aber vielleicht hatten sie außerdem Gastroenteritis“, sagte Matthew, der nicht so leicht aufgeben wollte.
„Möglicherweise“, erwiderte ich. „Manche der Lebensmittel, die man damals aß, waren nicht sehr sauber. Es ist also durchaus wahrscheinlich, daß sie Gastroenteritis gehabt haben könnten.“
Er sah David Eynon ins Auge, wie um ihn zu warnen, ja keine Bemerkung zu machen. Er hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Es kam keine. Wir erreichten den Höhepunkt der Geschichte ohne ein weiteres Zeichen von Feindseligkeit zwischen den beiden Jungen.
Dann sangen wir das Abschlußlied. Es war „Du meine Seele, singe“. Die Lautstärke, mit der David Eynon dem schweigenden Matthew ins Ohr sang, hätte besser in den Schankraum einer Kneipe am Samstagabend gepaßt als in eine Sonntagsschule.
„Verdammter Angeber!“ knurrte Matthew aus dem Mundwinkel heraus und verlieh seiner Verachtung durch einen Stoß in die Eynonschen Rippen entsprechenden Nachdruck.
Der Stoß erwischte den Sänger mitten in „Sein Herz und ganzes Wesen bleibt ewig unbetrübt“ und unterbrach sein Gebrüll durch einen schrillen Aufschrei. Das Kichern, in das daraufhin der Rest der Klasse ausbrach, führte zu einem deutlichen Diminuendo im Gesang der gesamten Schule.
Ich brach das Lied ab.
„Was ist da los?“ fragte ich.
„Es war seine Schuld, Sir“, sprach der abscheuliche Eynon. „Er hat geflucht und mich gehauen.“
„Ich hab’ ihn nicht gehauen, Sir“, sagte Matthew. „Ich hab’ nur so mein Buch gehalten, daß der Ellbogen Vorstand, und er hat sich umgedreht, um laut zu singen, und hat sich die Rippen an meinem Ellbogen angestoßen.“
„Fragen Sie ihn, ob er geflucht hat, Sir“, jammerte der Geschlagene.
„Ich habe ihm nur gesagt, daß er ein Angeber ist“, sagte Matthew, „und das ist er auch.“
„Er hat ,verdammt’ gesagt, Sir“, beharrte David Eynon.
„Genug jetzt“, sagte ich streng. „Wir singen jetzt die letzte Strophe, und es ist nicht nötig zu schreien. Singen sollt ihr.“
Matthew putzte sich das schmutzige Gefieder.
Als er ein paar Minuten später seinen kleinen Bruder aus dem Gebäude eskortierte, gab er das feste Versprechen ab, nächste Woche wiederzukommen. Das muß für den Eynon-Jungen, der in der Nähe stand, wie eine schreckliche Drohung geklungen haben.
Als ich von der Sonntagsschule zur Mount Pleasant View Nummer dreizehn zurückkehrte, sah ich vor dem Haus eine große Wolsey-Limousine stehen. Kaum hatte ich die Tür geöffnet, da trat mir schon eine lange, dünne Bohnenstange von einem Mann mit einem unpassenden, halb hinter einer riesigen Hornbrille versteckten Billy-Bunter-Gesicht entgegen. Er trug einen College-Schal um den Hals geschlungen.
„Fred!“ quietschte er. „Hab’ ich dich endlich gefunden!“
Harry Tench war
Weitere Kostenlose Bücher