Unter uns Pastorentoechtern
zu.
„Das kann man wohl sagen“, erwiderte er und wischte sich einen Regentropfen von der Nasenspitze.
„Wie die große Flut“, kommentierte ich.
Er blieb starr stehen.
„Was für eine Flut, Mr. Secombe?“
„Sie wissen schon“, sagte ich. „Noah, der mit der Arche auf dem Berg Ararat festsitzt.“
„Hab’ seit Tagen keine Zeitung gelesen“, dröhnte er. „Bis Sonntag.“
Ich grinste immer noch, als ich die Türklingel am Pfarrhaus betätigte. Das Grinsen verschwand, als der Pfarrer öffnete. Offensichtlich hatte er nicht gerade seinen allerbesten Morgen. Sein Gesicht paßte hervorragend zum Wetter.
Sobald er sich im Arbeitszimmer hinter seinen Schreibtisch gesetzt hatte, feuerte er eine Kritik meiner Predigt vom Sonntagabend ab, die er flach fand.
„Sie brauchen mehr Substanz, Secombe“, erklärte er. „Mehr Fleisch auf den Rippen.“
Genau das sagte meine Mutter auch immer, dachte ich: kein Fleisch auf den Rippen, flach wie ein Brett, vorne wie hinten, keine Kurve in Sicht.
„Sie müssen mehr menschliches Elend zu Gesicht bekommen. Es wird Zeit, daß Sie das Armenhaus besuchen“, brummte er.
Meine Augenbrauen fuhren hoch.
„Ich gehe gelegentlich dorthin, um seelsorgerliche Hilfe anzubieten“, fuhr er fort. „Vielleicht möchten Sie diese Aufgabe gern übernehmen. Es wäre sehr lehrreich für Sie.“
Der Pfarrer gestattete sich eine kleine Grimasse, die ein Lächeln darstellen sollte.
„Wann soll ich anfangen, Herr Kanonikus?“ fragte ich.
„Die beste Zeit ist immer die Gegenwart“, sagte er. „Gehen Sie heute nachmittag hin, und stellen Sie sich beim Leiter vor, Mr. Wolstenholme. Er kommt aus Yorkshire und nimmt kein Blatt vor den Mund. Aber ich glaube, er hat wirklich die Interessen seiner Insassen im Auge. Seine Frau, die Oberin, ist eine schwierige Person.“
Als ich Mrs. Richards berichtete, daß mir die Aufgabe eines kirchlichen Beraters im Armenhaus übertragen worden sei, zeigte sie vollstes Mitgefühl.
„Mr. Price erhielt diese Aufgabe ebenfalls vom Pfarrer“, sagte sie. „Aber er war schon wesentlich länger hier als Sie, als das geschah. Es gefiel ihm nicht im geringsten . Er kam nicht mit diesem Mr. Sowieso zurecht, dem Leiter. Noch weniger mit Mrs. Sowieso. Und überdies konnte er den Geruch der Insassen nicht ertragen. Er sagte, es stinkt zum Himmel.“
„Tatsächlich?“ sagte ich. „Wenn der Geruch so hoch steigt, muß er ja wirklich schlimm sein.“
Als ich mich auf den Weg machte, war die Sonne aufgetaucht, und es war sehr warm. Ich konnte schon den Angriff auf meine Nase spüren, der mich im Armenhaus erwarten würde.
Anders als das Krankenhaus, das am Berghang lag, war die Pontywen Lodge im Tal eingeschlossen. Gleich außerhalb der Stadt. Sie war von hohen Steinmauern umgeben, die sie von außen wie ein Gefängnis aussehen ließen. Auch innerhalb der Mauern änderte sich nichts an diesem Eindruck. Die schmutzigbraune Steinfassade des Gebäudes war von einer großen Zahl kleiner, vergitterter Fenster durchbrochen. Es gab nur einen Lichtblick — die „Auffahrt“ war von einer Anzahl großer Rhododendren gesäumt, die sich um den Raum zum Wachsen stritten und den Asphalt zu überwuchern drohten. Die Oberfläche der Auffahrt war mit Schlaglöchern übersät, die wie die Tümpel, die in einem der Psalmen erwähnt sind, mit Wasser gefüllt waren.
Der Eingang zum Armenhaus hätte jene berühmte abschreckende Inschrift verdient: „Laßt jede Hoffnung, wenn ihr eingetreten!“ Allerdings verfügte er über einen großen Klingelknopf, der, als ich darauf drückte, ein Läuten erzeugte, das ebenso laut war wie die Kirchenglocke von St. Matthias.
Es erschien eine ältere Frau in farbloser Armenhausuniform, deren kleines, faltiges Gesicht von ein paar spärlichen grauen Haaren auf einem ansonsten kahlen Schädel gekrönt war. Sie starrte meinen geistlichen Kragen an. Bevor sie etwas sagen konnte, ertönte im Hintergrund ein unverkennbarer Yorkshire-Akzent: „Schon gut, Nellie. Ich kümmere mich um den Reverend.“
Der elegante Gentleman im grauen Nadelstreifenanzug, der mit klackenden Absätzen über den Steinfußboden kam, um mich zu begrüßen, sah eher wie ein Geschäftsreisender aus als der Leiter eines Armenhauses.
„Ich heiße Wally Wolstenholme. Sie müssen der neue Vikar sein. Ich habe mich schon gefragt, wann ich Sie wohl kennenlernen würde.“ Er stieß mir seine rechte Hand entgegen und umklammerte die meine mit einem schraubstockartigen
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