Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
der Trick«, sagte Rosalinde Üblhör wissend. »Der Mörder tarnt sich als ganz normaler Mensch, und dann auf einmal – zack! – hast du ein Messer im Rücken. Oder kein Gesicht mehr.«
»So wird es wohl sein, Frau Beschließerin. Aber was meinen Sie mit ›kein Gesicht mehr‹?«
»Ja, die Tote hat doch ein völlig zerfressenes Gesicht gehabt! Von diesen Aaskäfern.«
Pratap Prakash blickte gespielt überrascht auf.
»Ja, Aaskäfer!«, sagte die Herbergsmutter angeekelt. »Pfui Teufel! Auf solche Viecher kann man gut und gerne verzichten!«
»Sagen Sie so etwas nicht, Frau Herbergsmutter. In manchen Kulturen werden Aaskäfer zutiefst verehrt. Es sind Geschöpfe, die die ewige Wiederkehr in Gang halten.«
»Gehns zu!«
»Es gibt die Geschichte von Kaiser Jojpratsh, der den Körper seiner verstorbenen Frau an Aaskäfer verfüttert hat. Er gab die Tiere dann in ein wohltemperiertes Insektarium und konnte seine Kaiserin auf diese Weise immer besuchen.«
»Das ist ja furchtbar!«, stöhnte die Wirtin auf.
Dilip Advani gab ihr die Phantomzeichnungen wieder zurück.
»Ich kann mir das gar nicht mehr anschauen. Stellen Sie sich vor: Einer von denen ist ein Mörder. Ich werde nicht gut schlafen können heute Nacht.«
»Ja, wirklich schlimm ist das«, sagte die Wirtin. »Aber kann ich jetzt bitte Ihre Ausweise –«
Seufzend erhob sich der stumme Raj Narajan und fischte drei abgegriffene Papiere aus dem Koffer. Er reichte sie der Wirtin.
»Ah, die Herren sind Amerikaner!«, rief Rosamunde Üblhör erfreut. »Das hab ich mir schon gedacht. Alle drei?«
Dumme Frage. Natürlich alle drei. Alle drei aus Springfield/Illinois, Geschäftsreisende der gleichen Firma. Jeder wusste, wann sein Großvater geboren worden war und wann die Großmutter Masern bekommen hatte. Man musste ein verdammt gutes Gedächtnis in diesem Job haben. Der Tunesier hatte von einem Franzosen namens Pierre erzählt, der ein lesenswertes Buch über Gedächtnistraining sein Eigen nannte. Die drei Inder gaben sich professionell, doch selbstverständlich stieg auch bei ihnen ein ungemütliches kleines Prickeln hoch. Der zwanzigarmige Dämon Rakshasa, der große Beschädiger, war im Raum, ohne dass ein Bild von ihm an der Wand hing. Ihre Ausweise stellten zwar sehr gute Fälschungen dar, sie waren das Beste, was man auf dem Markt bekommen konnte, die Polizei würde ein paar Tage brauchen, um sie als Fälschung zu identifizieren – aber trotzdem. Das Prickeln war da. Aufreizend langsam schrieb Rosalinde Üblhör die Ausweisnummern ab.
»Und was machen die Herren so?«, fragte sie interessiert.
Alle drei hatten perfekte Legenden einstudiert. Falls sie auf jemanden trafen, der ebenfalls aus Springfield stammte.
»Wir sind Handelsvertreter«, sagte Pratap Prakash.
»Hygienischer Bedarf«, sagte Dilip Advani.
Raj Narajan nickte.
»Kennen Sie Springfield?«
»Nein.«
Schade. Sie hätten so viel von Springfield erzählen können.
»Frau Üblhör«, sagte Pratap Prakash so beiläufig wie möglich. »Wir wollen morgen einen Ausflug mit dem Mietauto machen. Ganz früh. Können Sie uns eine Autovermietung empfehlen?«
»Wohin wollen Sie fahren?«
»Ins Rheinland.«
»Ins Rheinland?!«, kreischte Rosalinde. »Ja, wissen Sie nicht, was hier bei uns los ist! Nein, das können Sie ja gar nicht wissen: Nirgends kommt man mehr durch. Eine Sauerei ist das. Eine Riesensauerei. Wie soll denn da der Tourismus funktionieren. Aus dem Ort kommt niemand mehr raus. Der Gemeinderat Harrigl hat schon recht: Diesem Kommissar Jennerwein, der das alles verursacht hat, dem gehört einmal der Zahn gezogen.«
Pratap Prakash runzelte die Stirn.
»Kommissar Jennerwein?«
»Das ist der sogenannte Kommissar, der alles mögliche durcheinanderbringt, der aber keinen Mörder findet. Jedenfalls können Sie das mit dem Rheinland vergessen. Bleiben Sie da, das ist gescheiter. Die Polizei hat die Autobahn gesperrt, die Hauptstraßen, die nach Österreich führen, ebenfalls. Wir sind von der Außenwelt komplett abgeschnitten. Überall haben sich kilometerlange Schlangen gebildet. Im Radio haben sie von chaotischen Zuständen berichtet. Da kommen Sie mit dem Auto nicht mehr durch.«
Raj Narajan machte eine fragende Handbewegung: Sollen wirs trotzdem riskieren? Pratap Prakash schüttelte unmerklich den Kopf.
»Dann bleiben wir eben«, sagte er. »Dann warten wir die nächste Gelegenheit ab.«
»Freilich, machen Sie das«, sagte Rosalinde Üblhör dienstbeflissen.
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