Unterm Kirschbaum
Schulz zu Tode gekommen ist«, sagte Schneeganß.
Klütz realisierte, dass er in diesem Spiel gegen die Kripo aussichtslos mit 0:6 hinten lag. Und so waren die Tore gegen ihn gefallen: Das 0:1 – er hatte ein Motiv, das zwingend war. Das 0:2 – er hatte kein Alibi. Das 0:3 – er war zur Tatzeit am Tatort gewesen. Das 0:4 – er verfügte über ein Wissen, das nur der Täter haben konnte. Das 0:5 – er stand in dem Ruf, ein äußerst aggressiver Mensch zu sein. Das 0:6 – das Opfer war auf seinem Grundstück gefunden worden.
»Fehlt uns nur noch Ihr Geständnis, Herr Klütz«, sagte Schneeganß.
Klütz wusste, dass er am nächsten Tag in allen Medien sein würde – und das hatte er seit Jahren nicht mehr genießen können. Wenn er seine Geschichte exklusiv verkaufte, brachte das eine Menge Geld, und noch mehr, wenn er später vor Gericht sein Geständnis widerrief und den Beamten unlautere Verhörmethoden vorwarf, die an Psychofolter grenzten. Das war die eine Triebkraft, die andere und wohl viel stärkere war der Wunsch, sich fallen zu lassen und eine Auszeit vom Leben zu nehmen, sich ins Gefängnis zu flüchten wie in ein Kloster. Kein Kampf mehr um die Liebe einer Frau, kein Kampf mehr um das Recht, seine Kinder zu sehen, kein Kampf mehr, einen Spieler unter Vertrag zu nehmen und einen passenden Verein für ihn zu finden, sondern nur die Ruhe in der Zelle und das Gleichmaß aller Tage. Dass er sich im Knast schnell Respekt verschaffen würde, bei den Mitgefangenen wie dem Personal, daran zweifelte er keine Sekunde. Und ein Lebenslänglich würde es sicherlich nicht geben, wenn seine Verteidiger sich geschickt genug anstellten und auf Totschlag plädierten beziehungsweise auf Notwehr, weil Schulz ihn attackiert hatte. Er war sich voll bewusst, dass es eine Art Selbstmord war, was er da vorhatte, aber gerade das war es ja, was er wollte.
So senkte er schließlich den Kopf.
»Ja, ich war es.«
III. Teil
(2008)
8.
Als er aber den Burgunder in die Hand nahm, gab er dem Jungen, halb ärgerlich halb gutmütig, einen Tipp auf die Schulter und sagte: »Bist ein Döskopp, Ede. Mit grünem Lack, hab ich dir gesagt. Und das ist gelber. Geh und hole ne richtige Flasche. Wer’s nich im Kopp hat, muß es in den Beinen haben.«
Ede rührte sich nicht.
»Nun, Junge, wird es? Mach flink.«
»Ich geih nich.«
»Du gehst nich? Warum nich?«
»Et spökt.«
»Wo?«
»Unnen … Unnen in’n Keller.«
(Theodor Fontane, ›Unterm Birnbaum‹)
Hansjürgen Mannhardt brauchte Papier und Bleistift, um sich klarzumachen, wer alles zu seiner Großfamilie gehörte, denn Michael und Elke, seine beiden Kinder aus erster Ehe, hatten mit mehreren Partnerinnen beziehungsweise Partnern etliche Kinder gezeugt, mal ehelich, mal nicht ehelich, und zudem hatten sowohl er als auch Lilo, seine Exehefrau, neue Familien gegründet. Sieben Enkelkinder hatte er, einige schon in einem Alter, in dem sie ihn zum Uropa machen konnten, was er fast so fürchtete wie einen Schlaganfall.
Selten kamen alle zusammen, da musste schon einmal ein Onkel seinen 90. Geburtstag feiern oder eine allseits beliebte Tante zu Grabe getragen werden. So wie diesmal Tante Elsa, die als Krankenschwester viel Gutes getan hatte. Es war Brauch gewesen, bei plötzlich auftretenden Beschwerden, insbesondere an Sonn- und Feiertagen und spätabends, wenn kein Arzt zur Hand war, erst einmal Tante Elsa anzurufen und zu fragen, ob die Symptome, die man aufzuweisen hatte, noch auf einen grippalen Infekt hindeuteten oder schon auf eine Lungenentzündung.
Tante Elsa hatte zeitlebens in Friedenau gewohnt, zuletzt am Südwestkorso, und so war es logisch, dass sie auf dem kleinen Friedhof an der Stubenrauchstraße beigesetzt wurde. Als sie in langer Schlange zwischen den Gräbern standen und warteten, bis sie an der Reihe waren, ihre drei Hände voll Erde auf den Sarg zu werfen, hatte Mannhardt Zeit genug, die Wohnung ins Auge zu fassen, in der Karsten Klütz gelebt hatte. Komisch. Früher hätte man gesagt ›Berlin is doch ’n Dorf‹, heute sagte man ›Alles hängt mit allem zusammen‹. In den letzten Tagen hatte er Klütz’ Aufzeichnungen Zeile für Zeile gelesen, und immer wieder stand ihm das Bild vor Augen, wie Klütz ihn angefleht hatte: ›Bitte, Herr Kommissar, Sie haben doch jetzt Zeit genug: Gehen Sie meinen Fall noch einmal durch. Ich schwöre Ihnen bei Gott und bei allem, was mir heilig ist, dass ich den Mord damals nicht
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