Unterm Messer
Sie sieht auf die seltsamen zarten Strichmuster.
„Wir haben etwas“, sagt sie dann und strahlt uns an. „Ich muss natürlich noch alle Dateien durchsehen, aber was auf diesem Computer jedenfalls drauf ist, ist eine Testreihe mit einer Substanz, die Sirtuine beeinflusst. Sie scheint ganz gut verlaufen zu sein. Ich habe da DNA-Sequenzierungsergebnisse. Sieht so aus, als wären die Forscher auf einem interessanten Weg.“
„Und wovon reden wir da?“, frage ich. „Hat das doch nichts mit einem Präparat zur Lebensverlängerung zu tun?“
Nat sieht mich irritiert an. „Doch, natürlich. Es geht um ein Molekül, das diesem Stoff im Rotwein ähnelt, von dem ich erzählt habe. Es täuscht vor, dass der Körper weniger Kalorien bekommt als normal, wodurch ein Programm angeschaltet wird, das mehr Kräfte mobilisiert, um zu überleben. Eine zweite Substanz könnte den Körper dazu bringen, dass er sich vormacht, alles tun zu müssen, um ausreichend Nahrung zu finden. Diese Substanzen sollen dem Körper auch suggerieren, dass er kein Fett für schlechte Zeiten einlagern, sondern in erster Linie Muskeln für die Futtersuche aufbauen soll. Wenn alles richtig läuft, sollten alle Zellen robuster werden und deshalb weniger schnell altern. Es könnte so auch gelingen, dass die Telomere stabil bleiben und sich nicht verkürzen. Aber dafür sehe ich hier keine Ansätze ... Da sind wir unter anderem gerade dran. Außerdem sind sicher nicht alle Ergebnisse auf einem Laptop. Grünwald war da immer schon extrem vorsichtig.“
Die Genetikerin arbeitet sich durch weitere Dateien, Tabellen, DNA-Sequenzen. Vesna wäscht so leise wie möglich ab. Ich stehe einfach da und schaue abwechselnd aus dem Fenster und zum Laptop und warte. Wir haben also tatsächlich den Beweis, dass es Grünwald und seinen Forschern nicht nur um Anti-Aging-Cremes, sondern auch um Substanzen zur Lebensverlängerung, am besten wohl gleich um das erste patentierbare Mittel dazu, geht.
„Es deutet einiges darauf hin, dass sie nicht nur Versuche an Säugetieren machen, sondern auch an Menschen“, murmelt Nat. „Dazu gibt es hier allerdings nur Querverweise. Und da ist noch etwas Seltsames: Es gibt noch andere Querverweise. Es scheint gemischte Testreihen zu geben. Offenbar testet man nicht nur Aktivitätspegel und Muskelwachstum, sondern auch noch etwas anderes.“
„Zwei Substanzen, jeweils unter der Nachweisgrenze, die einander verstärken“, erwidere ich und bin stolz, das schon begriffen zu haben.
„Das sowieso“, sagt die Wissenschaftlerin unbeeindruckt. „Das meine ich nicht. Da gibt es Verweise auf parallele Testreihen. ,Psy‘ steht da. Ich kenne kein solches genetisches Kürzel.“ Sie runzelt die Stirn. Offenbar mag sie es gar nicht, wenn sie etwas nicht deuten kann. „Aber da war etwas ...“, fährt sie dann fort. „Ich habe vor gar nicht langer Zeit einen Artikel in einer Fachzeitschrift gelesen ... Es ging um die ethischen Grenzen von Genversuchen. Und um Spekulationen, dass Eingriffe ins Muster der DNA mit bewusstseinsverändernden Präparaten gekoppelt werden könnten. Das ist dann vergleichbar mit Gehirnwäsche, man sagt dem Gehirn, was man will, und der Körper wird durch genetisch wirksame Substanzen darauf programmiert, das auch ausführen zu können.“ Sie sieht uns nachdenklich an.
„Das heißt, man gibt Menschen Befehl und sie können ihn mit maximaler Aktivität und maximalen Muskeln erfüllen“, überlegt Vesna.
„Wirkt so, als könnte man auf die Art selbst Krieger heranzüchten“, murmle ich und merke, dass ich Gänsehaut habe.
„Das klingt vielleicht etwas dramatisch, aber in diese Richtung könnte es gehen“, antwortet die Genetikerin. „Ich glaube nicht, dass die Forschung daran sehr interessiert ist. Wir wollen ein Mittel, das Menschen länger und vor allem gesünder leben lässt. Wobei die Pharmariesen da sicher nicht bloß aus edlen Motiven dran sind, sondern weil man damit sehr viel Geld verdienen kann.“
„Doch was wäre, wenn jemand eine Guerillaarmee aufbauen möchte?“
Nat nickt langsam. „Dann sagt nicht nur das Gehirn ,kämpfen', der Körper kann es durch die genetische Stimulation auch viel besser."
„Grünwald könnte also an der Erzeugung von menschlichen Kampfmaschinen arbeiten“, fasse ich zusammen. Ich sehe ihn vor mir, gestern Abend hinter dem Haus. Wie er seiner Freundin über die Wange streichelt. Mira: So etwas machen auch böse Menschen. Es ist nur die Frage, was sie sonst
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