Unterm Strich
dass der verachtete und für unfähig erklärte Staat (zusammen mit anderen Staaten) den Banken das Vertrauen leihen muss, das sie untereinander nicht mehr hatten.
Die markanteste - und durchaus beeindruckende - Symbolfigur der markttheologischen Schule im Zentralbankensystem während der Hochphase des Casino-Finanzkapitalismus war der Chef der US-Zentralbank, Alan Greenspan. Seine Verabschiedung im Kreis der G7-Finanzminister und -Zentralbankgouverneure Anfang Dezember 2005 in London geriet zu einer Denkmaleinweihung. Heute hat dieses Denkmal einige Risse.
Der Siegeszug eines entfesselten Kapitalismus speiste sich zusätzlich aus dem Zusammenbruch des realen Sozialismus. Dass sich das marktwirtschaftlich-kapitalistische System seither in unterschiedlichen und jeweils angepassten Varianten weltweit durchgesetzt hat - wenn man von Nordkorea, Kuba und wenigen anderen Exoten absieht -, mögen einzelne politische Zirkel beklagen. Es ändert aber nichts am Faktum. Eine erneute Systemkonkurrenz durch die Wiederbelebung einer sozialistischen Planwirtschaft ist weit und breit nicht erkennbar. Selbst jene Länder, die jenseits ihrer kapitalistischen Praxis noch einen sozialistischen Überbau aufrechterhalten, sehen sich nicht in der Rolle einer neuen Avantgarde. Es gilt allerdings, was Theo Sommer in der Zeit schrieb:
Wenn der Kapitalismus nicht lerne, Wettbewerbsfähigkeit mit gesellschaftlicher Solidarität zu verbinden, dann »wird der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts dasselbe Schicksal erleiden wie der Sozialismus kommunistischer Ausprägung im 20. Jahrhundert: Er wird an seiner menschenfeindlichen Schnödigkeit zugrunde gehen.«
Auf der Tagesordnung steht deshalb das Ringen um eine systemimmanente Anpassung des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systems. Vor allem seine Hemmungslosigkeit gegenüber den gesellschaftlichen und natürlichen Grundlagen unserer Existenz muss gebändigt werden, denn dieser Preis ist tatsächlich zu hoch. Aber, wie Andreas Zielcke es ausdrückte, dem Kapitalismus »eine asoziale Struktur vorzuwerfen ist so klug, wie dem Jagdhund das Jagen vorzuhalten. Seine unvergleichliche Produktivität, Innovationspotenz und historische Durchsetzungskraft, all dies setzt eine völlige Unempfindlichkeit, Bindungslosigkeit und Abstraktion von allen sozialen und individuellen Besonderheiten voraus. Sein asozialer Zug ist kein Charakterfehler, sondern ein konstruktives Prinzip.«
Eine Renaissance der Politik muss auf einen handlungsfähigen Staat - und eine entsprechende Staatengemeinschaft - hinwirken, der einem zivilisierten Kapitalismus die Zügel führt. In unserem ordnungspolitischen Sprachgebrauch heißt das, die soziale Marktwirtschaft zu rekonstruieren. Das ist die zentrale Herausforderung, um Ökonomie, Ökologie und soziale Gerechtigkeit in ein Gleichgewicht zu bringen.
Die Finanz- und Wirtschaftskrise müsste dafür eigentlich Fenster und Türen geöffnet haben - sollte man annehmen. Tatsächlich ist der Verlust an Gestaltungsmacht von Politik bisher nicht wirklich gestoppt und gewendet. Erstens haben die Fortentwicklung politischer Institutionen und ihre Verankerung auf internationaler Ebene mit der Entgrenzung ökonomischer Aktivitäten nicht Schritt gehalten. Zweitens tendiert die marktwirtschaftlich-kapitalistische Logik dazu, den Staat oder auch die Staatengemeinschaft auf die Rolle eines Reparaturbetriebs zu reduzieren. Nicht zuletzt ist der Verlust an Gestaltungsmacht aber auch das Ergebnis der Kurzsichtigkeit und Unfähigkeit der Politik selbst, Interessengegensätze hintanzustellen und Konflikte durchzufechten.
Der Vertrauens- und Kompetenzverlust der Politik ist kein deutsches Spezifikum. Verwerfungen ganzer Parteienlandschaften bei einigen unserer europäischen Nachbarn belegen dies anschaulich. Auch in Deutschland könnte das Parteiensystem am Ende des zweiten Jahrzehnts durchaus anders aussehen als heute. Selbst eine 150-jährige Geschichte bietet keine Garantie dafür, dauerhaft Volkspartei zu bleiben, wie die SPD gerade schmerzlich erfahrt. Die CDU ist nicht minder weit von früheren Wahlergebnissen entfernt. Die CSU verliert nicht minder die Gewissheit, auf ewig unangefochten die Staatspartei der Bayern zu sein. Bisher unvorstellbare Koalitionen von Schwarz-Grün über Jamaika bis Rot-Rot lassen die Politik zu einem Flickenteppich werden, im Bundesrat droht bald Unübersichtlichkeit. Bei der nächsten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus im September 2011 könnten vier Parteien
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