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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peer Steinbrück
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jeweils zwischen 20 und 25 Prozent aufweisen - ein Trend? Kein Wähler weiß mehr, mit welcher Partei er am Ende welche Koalition bekommt. Das wiederum wird seinen Weg ins Wahllokal nicht beflügeln. Weitere Ausfransungen oder Parteineugründungen sind nicht ausgeschlossen - man denke an die Piratenpartei bei der Bundestagswahl 2009, die mit nur einem einzigen Thema 800 000 Stimmen erhielt.
    Die neue Unübersichtlichkeit, unkalkulierbare Koalitionen und wechselnde Koalitionsaussagen sind aber nur eine Facette für den fortschreitenden Vertrauensverlust. Keine geringere Rolle spielt der personelle Auswahl- und Ausleseprozess der Parteien. Er befördert tendenziell die Linientreuen, die schon durch die Niederungen diverser Parteitage und Delegiertenkonferenzen gegangen sind, Parteiweisheiten bis zur Leugnung des gesunden Menschenverstands aufsagen und abweichende Meinungen mit einem Bannstrahl strafen können. Er befördert die »Zeitreichen«, wie Ulrich Pfeiffer und, ihm folgend, Peter Glotz sie genannt haben, diejenigen, die auf allen Sitzungen und Veranstaltungen präsent sind und sich die Ochsentour vom Kassierer bis zum Kandidaten zeitlich leisten können.
    Die Zeitreichen sind im Gegensatz zu den Zeitarmen gleichzeitig diejenigen, die den geringsten Bezug zu den sich ändernden Wirklichkeiten außerhalb ihrer Parteiwelt haben. Der Zeitarme ist meistens beruflich oder durch andere Engagements gefesselt. Er kann nicht an jeder Parteisitzung teilnehmen und muss seine Sicht gelegentlich revidieren, denn seine Erfahrungen in parallelen Welten kollidieren manchmal mit der von Wunschdenken geprägten Parteiräson. So sitzen schließlich immer dieselben Personen in den Gremien, bilden einen nicht sehr repräsentativen Querschnitt von sozialen und beruflichen Milieus - und werden immer älter.
    In der einen oder anderen Absentia, die ich mir in Sitzungen des Parteivorstands und häufiger noch des Parteirats der SPD verordnete, um nicht aus dem Anzug zu fahren, habe ich die Teilnehmer nach Dauer ihrer Gremienmitgliedschaft und ihrem Alter Revue passieren lassen. Da saßen einige seit Jahrzehnten. Völlig unverändert. Von neuen Erkenntnissen oder Erfahrungen nicht die Bohne angekränkelt. Die Kompassnadel festgeschweißt, redselig nie ein Mikrophon auslassend und dem Lieblingssport frönend, in einer Art Selbstbeweis denjenigen ans Schienbein zu treten, die in schwieriger politischer Verantwortung stehen. Man war gut beraten, auf ihre Einlassungen und ihre in solidarische Worte verpackten Giftpfeile höchst korrekt und ergeben zu antworten. Nur nicht den Zeiger auf der Erregungsskala hochschnellen lassen! Damit aber hat man in sträflicher Weise dazu beigetragen, dass der Aufenthalt in einigen Wolkenkuckucksheimen noch verlängert wurde.
    Quereinsteiger - zumal solche mit unkonventionellen Auffassungen, mangelndem Stallgeruch und einem fachlichen Wissen, das sich nur schwer auf die Linie der jeweils tonangebenden Parteiströmung verbiegen lässt - werden schnell weggebissen. Die politische Konkurrenz aber beutet ihre Unerfahrenheit auf dem politischen Parkett gnadenlos aus. Insofern mag es wahltaktisch ein »genialer« Schachzug von Gerhard Schröder gewesen sein, den »Professor aus Heidelberg«, Paul Kirchhoff, im Bundestagswahlkampf 2005 als Kompetenzzentrum der CDU/CSU regelrecht vorgeführt zu haben. Aber die über die Wahl hinausgehenden Folgen dürfen als fatal gelten: So schnell wird sich kein deutscher Professor mehr in die heiße politische Küche wagen. Mit Blick auf die wachsenden Herausforderungen ist dies für die Rekrutierung politischen Spitzenpersonals alles andere als ermutigend.
    Der personelle Auswahl- und Ausleseprozess der Parteien befördert stattdessen eher rundgefeilte Karrieristen. Die planen als junge Liberale, junge Unionsmitglieder oder Jusos bereits mit Anfang 20 ihren politischen Aufstieg auf Jahrzehnte. Sie haben in vielen Fällen nichts anderes als Politik »gelernt«, keinen anderen Beruf ausgeübt. Sie sind höchst gewieft im Schmieden von Bündnissen auf Zeit und Hintertreppenverabredungen. Sie legen es früh auf innerparteiliche Vernetzung an und sind geübt in der Selbstinszenierung zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort. Dazu gehören die kalkulierte Widerrede gegen eine »Parteigröße« und das öffentliche Aufbegehren gegen eine vereinbarte Linie.
    An dieser Stelle erscheint auch ein Wort zur Politikersprache angebracht, die in der Regel als hohl, gestanzt oder schwadronierend

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