Unterm Strich
Steuern und Abgaben in Höhe von über 16 Milliarden Euro bei voller Jahreswirkung führten. Die zwischen 1998 und 2008 beschlossenen Steuermaßnahmen haben einen jährlichen Entlastungseffekt von 51 Milliarden Euro. Das passte aber nicht ins Redekonzept. Der Mythos lebt von sagenhaften Geschichten, nicht von blanker Statistik.
Bleibt das häufig angestimmte Klagelied des deutschen Mittelstands über die angeblich so beschwerliche Substanzbesteuerung. Unter Substanzsteuern werden sämtliche Steuern verstanden, die nicht an den Gewinn, sondern an das Vermögen oder bestimmte Vermögensarten anknüpfen. Auch hier zeigt sich, dass diese Substanzbesteuerung in Deutschland lediglich einen Anteil von 0,9 Prozent vom BIP hat. In Großbritannien sind das 4,5, in Frankreich 3,5 und in den USA 3,1 Prozent. Der Durchschnitt der OECD beträgt 1,9 Prozent. Generell erbringen Vermögenssteuern in Deutschland lediglich 2,3 Prozent des gesamten Steueraufkommens - im Durchschnitt der OECD sind es 5,6 Prozent. Diese Hinweise mögen genügen, der Leser sitzt ja nicht in einem steuerpolitischen Seminar.
Auf kaum einem anderen politischen Feld wird eine solche interessengeleitete Phantomdebatte geführt wie in der Steuerpolitik. Der Mythos der zu hohen Steuerbelastung dient nämlich vor allem dazu, das Interesse einkommensstärkerer Gruppen an Steuersenkungen zu verbrämen, indem man mit Leistungsanreizen und Lockangeboten auch an die Inhaber kleinerer Geldbeutel appelliert, die davon allerdings gar nichts oder nur einen Bruchteil abkriegen. Aber beim Geld hören schließlich alle hin.
Das Interesse oberer Einkommensschichten an Steuersenkungen ist an sich nicht unverständlich und auch keineswegs verwerflich. Wer zahlt schon gern viel Steuern? Haarsträubend sind jedoch Position und Vorgehen der politischen Transporteure dieses Interesses. Mitten in der schwersten Krise der Nachkriegszeit füttern und beschäftigen sie das Land mit einem Thema, dessen Relevanz sich faktisch nicht erschließt - wohl aber sein Aberwitz, dass damit weitere Löcher in den Staatshaushalt gerissen würden. Sie binden politische Energie und öffentliche Aufmerksamkeit und lenken von den unzweifelhaft bestehenden wirklichen Problemen ab.
Viele glauben, dass eines dieser unleugbaren Probleme die sogenannte kalte Progression sei. Von kalter Progression spricht man, wenn Lohnerhöhungen von der Inflation aufgefressen werden, also das Realeinkommen gar nicht steigt und trotzdem höhere Steuern zu zahlen sind. Auch dieses Thema ist ein propagandistisches Vehikel. Die kalte Progression erhöht nach Berechnungen, die ich noch im Bundesfinanzministerium veranlasste, sich über das letzte Jahrzehnt langsam steigernd, den Durchschnittssteuersatz eines Ledigen mit einem Bruttogehalt von 2500 Euro monatlich, 13 Monatsgehältern und einer Lohnerhöhung von 4 Prozent um 0,56 Prozent oder 15 Euro monatlich und bei einem Bruttogehalt von 3500 Euro monatlich um 0,50 Prozent oder 19 Euro monatlich. Analoge Beispiele für andere Haushaltstypen und Einkommensklassen ließen sich bilden.
Der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats im Bundesfinanzministerium, Clemens Fuest, und Wolfgang Wiegard, Mitglied des Sachverständigenrats, halten den Effekt der kalten Progression wegen der zwischenzeitlichen Steuersenkungen und der niedrigen Inflationsrate für eher theoretisch, jedenfalls nicht für ein drängendes Problem. Die OECD geht in ihrer jüngsten Steuerstudie für Deutschland sogar noch einen Schritt weiter und sieht den schleichenden Anstieg der Steuer- und Abgabenlast durch die zwischen 2000 und 2009 beschlossenen Steuer- und Abgabensenkungen »mehr als überkompensiert«. Der Mythos ist längst in sich zusammengesackt.
Ein unbestrittenes Problem im Gegensatz zu all diesen Scheinproblemen ist der steile Verlauf des Steuertarifs im mittleren Einkommensbereich - zutreffend Mittelstandsbauch genannt. Hier nehmen die Grenzsteuersätze mit jeder Erhöhung des Jahreseinkommens zwischen 13 500 und 52 900 Euro, wo schon der Spitzensteuersatz von 42 Prozent greift, rasant zu. Die Beseitigung dieses Mittelstandsbauches dürfte mindestens 20 Milliarden Euro pro Jahr kosten. Auf solche Summen werden die öffentlichen Haushalte in der auf unabsehbare Zeit weiterhin angespannten Lage nicht verzichten können. Schon vor diesem Hintergrund wird die Lösung nicht in einem Stufentarif á la FDP mit Steuerausfällen von jährlich 16 Milliarden Euro oder mehr liegen können - abgesehen von
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