Unterm Strich
erbringt 52 Prozent des Aufkommens der Einkommensteuer; das oberste Einkommensfünftel leistet 68 Prozent aller Steuerzahlungen. Die unteren 50 Prozent aller Einkommensteuerpflichtigen tragen hingegen gerade einmal 6,5 Prozent und die untersten 20 Prozent lediglich 0,1 Prozent zum Steueraufkommen bei. Soll man das einen verteilungspolitischen Skandal nennen?
Auch hier lenkt der Mythos von den eigentlichen und kritikwürdigen Punkten ab. Skandalös sind zum Beispiel Steuerbefreiungen, Freibeträge und andere Vergünstigungen, von denen die oberen Einkommensbezieher deutlich mehr Vorteile haben als die unteren und mittleren Verdiener. Der Durchschnittssteuersatz auf das gesamte Jahreseinkommen liegt deutlich unter dem Spitzensteuersatz. Ursache dafür ist die große Lücke zwischen Bruttoeinkommen und dem zu versteuernden Einkommen, eine Lücke, die durch Freibeträge, steuerliche Absetzungen und Steuervergünstigungen entsteht. Zudem sank die effektive Steuerlast der Spitzenverdiener im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts gegenüber den neunziger Jahren um rund 10 Prozent, während der Durchschnittsverdiener von den Steuerreformen sehr viel weniger oder kaum profitierte.
Genau hier liegt das Problem. Im unteren Einkommensdrittel gibt es eine überproportional hohe Abgaben-, aber kaum eine Steuerbelastung. Das mittlere Drittel leidet an einer hohen Abgabenbelastung, verzeichnet eher eine durchschnittliche Steuerbelastung, aber insgesamt eine hohe Grundbelastung. Das obere Drittel hat eine geringe Abgabenbelastung und im internationalen Vergleich eine durchschnittliche Steuerbelastung. Von den Steuerreformen seit dem Jahr 2000 haben die Spitzenverdiener am meisten und Alleinerziehende mit niedrigem Gehalt am wenigsten profitiert.
Wer diese unzweifelhafte Schieflage beseitigen will, muss allerdings punktgenau ansetzen. In den unteren Einkommensbereichen bietet die Abgabenlast den richtigen Hebel. Dazu müsste jedoch die schon erwähnte Umfinanzierung der deutschen Sozialversicherungssysteme von Abgaben auf Steuern in Angriff genommen werden. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dabei geht es nicht um die Abschaffung des umlagefinanzierten Solidarsystems, sondern um ein ausgewogenes Verhältnis. Zumindest alle versicherungsfremden Leistungen sollten über Steuern finanziert werden. Um in einem solchen Mechanismus die Sozialversicherungsabgaben senken zu können, wäre die Politik gezwungen, kompensatorisch Steuern zu erhöhen. Diese Courage hatte selbst die große Koalition mit ihrer einmaligen Mehrheit in Bundestag und Bundesrat nicht, als sie sich im Sommer 2006 an der Frage vorbeimogelte, wie sie denn einen jährlich um 1,5 Milliarden Euro steigenden Zuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) aus dem Bundeshaushalt refinanzieren will. Insofern hält sich mein Glaube an einen solchen Kraftakt in engen Grenzen. Die damaligen Modelle des Bundesfinanzministeriums für eine kompensatorische Steuererhöhung gelangten gar nicht erst auf den Kabinettstisch. Stattdessen wurde auf fortdauerndes Wirtschaftswachstum gesetzt, das zusätzliche Steuereinnahmen abwirft und von unangenehmen Entscheidungen befreit. Leider ist es anders gekommen.
Erscheint ein so weitreichender Eingriff in die Finanzierungsgrundlagen der Sozialversicherungssysteme mit einer Entlastung insbesondere geringer und unterer Einkommen selbst unter dem wachsenden Problemdruck kaum aussichtsreich, sollte wenigstens die Möglichkeit erwogen werden, auch im Abgabensystem einen Freibetrag und eine Progression einzuführen. Zu diesem Vorschlag finden sich Unterlagen im Bundesfinanzministerium. Nur weil er trotz einiger Überzeugungskraft - nach meiner Erinnerung im Jahr 2008 - in den politischen Beratungen mit dem Bundeskanzleramt und der Bundeskanzlerin nicht zum Zuge kam, muss er nicht auf ewig verbannt werden.
Unter der Voraussetzung, dass die öffentlichen Haushalte unter den obwaltenden Verhältnissen keine weitere Beschädigung ihrer Einnahmesituation vertragen, kann eine Tarifreform des Steuersystems nur gelingen, wenn die oberen Einkommen zur Finanzierung mit herangezogen werden. Darin liegt die steuerpolitische Lebenslüge der jetzigen Regierungsparteien. Sie wollen eine Entlastung über den gesamten Steuertarif bis in die oberen Stockwerke - und wissen nicht, wie sie dem gähnenden Loch der damit verbundenen Einnahmeverluste entkommen sollen, ohne dass das Grundgesetz mit der Schuldenbremse und die EU-Kommission mit dem Defizitverfahren
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