Unterm Strich
Gründen oder aufgrund von Konflikten mit Verlagsinteressen abgelehnt werden. Der Politblog »Wir in NRW«, den Profis unter dem Tucholsky-Pseudonym »Theobald Tiger« mit Nachrichten füttern, ist dafür ein Beispiel, das insbesondere vor der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2010 für Furore sorgte. Seine Nachrichten beziehen sich auf Interna aus der Landes-CDU, die darauf hinweisen, dass die CDU nur fünf Jahre Regierungszeit brauchte, um dort anzukommen, wo sich die SPD nach 39 Jahren Regierungszeit angesiedelt hatte. Dieser Blog war gleichzeitig eine Reaktion auf die nordrhein-westfälische Medienlandschaft mit dem WAZ-Konzern im Zentrum, die als distanz- und kritiklos gegenüber der CDU-Landesregierung und -Landespartei wahrgenommen wurde.
Die Frage der Medienvielfalt und ihrer wirtschaftlichen Überlebensfähigkeit stellt sich im Licht dieser Entwicklung wohl anders dar als vor einigen Jahren. Wahrscheinlich ist eine Differenzierung zwischen der nationalen und der regional-lokalen Ebene erforderlich, wo der begierige Griff mancher Verlagshäuser nach örtlichen Rundfunk- und Fernsehsendern zu Meinungsmonopolen führen kann, die (noch?) nicht durch Plattformen im Internet »zersetzt« werden.
Der wuchernde Graswurzeljournalismus hat aber auch eine Kehrseite. Was bedeutet es für die publizistische Qualität, wenn zunehmend »Amateure« zu Autoren werden, die eine subjektive, volatile und momentorientierte Berichterstattung praktizieren? Und, so Miriam Meckel: »Wie lässt sich ein professionell angelegter Qualitätsjournalismus noch finanzieren, wenn Informationen im Netz zur Commodity werden und kostenlos zu haben sind?« Diese Fragen sind nicht Gegenstand meines Buches, und ich möchte sie nicht einmal oberflächlich weiterverfolgen. Aber sie bilden einen Hintergrund, den man nicht aus den Augen verlieren sollte, wenn es um die Rolle der Medien und ihr Verhältnis zur Politik geht.
Ich zögere nicht, das nach wie vor hohe Maß an Qualität im deutschen Journalismus hervorzuheben. Die Medien in Deutschland haben in der Finanz- und Wirtschaftskrise ihre aufdeckende und aufklärende Funktion überwiegend lobenswert wahrgenommen und in kritischen Phasen der Versuchung widerstanden, Funken zu schlagen, die zu einer allgemeinen Verunsicherung ganz anderen Ausmaßes hätten führen können. Jeder Auslandsbesuch bestätigt mir darüber hinaus, dass die deutsche Medienlandschaft dem Vergleich mit den Print- und elektronischen Medien anderer Länder standhält. Ihr Beitrag, den politisch-öffentlichen Raum auszuleuchten, Macht zu kontrollieren und das Verständnis unserer Zeit zu fördern, steht außer Zweifel. Das sei einigen kritischen Anmerkungen vorausgeschickt, um ihnen den Charakter einer üblen Nachrede zu nehmen.
In dem von John Locke Ende des 17. Jahrhunderts formulierten und von Montesquieu Mitte des 18. Jahrhunderts fortentwickelten System der Gewaltentrennung, der Teilung der staatlichen Funktionen in die Exekutive als vollziehende Gewalt, die Legislative als Gesetzgebung und die Judikative, die den voneinander unabhängigen Staatsorganen Regierung, Parlament und Gerichten zugeordnet wurden, kamen die Medien nicht vor. Abgesehen davon, dass sie keine Staatsorgane sind und mit Sicherheit keine sein sollen, halte ich sie aber dennoch ernsthaft für eine »Gewalt« oder, weniger grimmig ausgedrückt, für eine gesellschaftliche Institution mit erheblicher Wirkung auf das öffentliche Wohl und (Zusammen-)Leben.
Gelegentlich beschäftigt mich die Vorstellung, dass die Medien eines Tages die Politik buchstäblich ablösen könnten. Die publizistische Klasse tritt mit ihrer Deutungs- und Unterhaltungsindustrie an die Stelle der politischen Klasse, so Lutz Hachmeister. Je kläglicher die Politik in den Augen der Bevölkerung versagt, desto mehr vertraut diese den Nachrichten und zunehmend den Bildern der Medien als Fenster zur Realität und ihren Kommentaren als Richtungsempfehlungen. In meinem ungeschriebenen Roman »2084« entscheiden die Bürger per Fernbedienung ihrer Fernsehapparate, die dann anders heißen, und per Mausklick an ihrem Computer über die Verhinderung oder Gestaltung von Zukunft, nachdem ihnen zuvor die geklonten Hape Kerkeling und Dieter Bohlen die Varianten auf der Tastatur ihrer Fernbedienung erklärt haben. Die mehrheitlich gedrückte Alternative wird von einer »Exekutivadministration« vollzogen. Parlamente und Regierungen sind überflüssig geworden.
Vielleicht schreibe ich den
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