Unterm Strich
Ministerpräsident Peter Müller erzählt in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (15. November 2009) von der Begegnung mit einem Journalisten, der ihn aufgeklärt hat: Es komme nicht darauf an, was er als Politiker sage. Es komme vielmehr darauf an, was man aus dem machen könne, was er sage.
Auch auf der anderen Seite, derjenigen der Politik, gibt es Veränderungen. Manche Politiker sehen einen zunehmenden Zwang - häufig folgen sie auch einem ausgeprägten Hang -, mediale Rituale, Erfordernisse oder auch angebliche Erwartungen zu befolgen. Sie sind zu allerlei Späßchen, Verkleidungen und Verrenkungen bereit und merken erst sehr spät oder gar nicht, dass sie nach mehreren solcher Auftritte tatsächlich für das gehalten werden, was sie auf der Bühne der Unterhaltung dargestellt haben. Sie geben dem Affen »Showbiz« Zucker in der aberwitzigen Annahme, darüber Wähler abholen zu können, und wundern sich, wenn ihnen persönliche Achtung entzogen und die ganze Politik zunehmend als Spektakel wahrgenommen wird. Ebenso tragen diese Talkshowmatadore zu einer Verwischung von politischer und medialer Sphäre bei. Ihnen ist offenbar der Gedanke fremd, dass diese Plauderstunden, in denen fast alles zerredet wird oder im Wortschwall der Mitdiskutanten untergeht, das Parlament als zentralen Ort der politischen Debatte und damit sie selbst als Abgeordnete entwertet.
In politischen Talkshows gelten nicht die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie, sondern die der medialen Regie, und denen zufolge müssen auf der Gästeliste möglichst ein Berufsquerulant, ein Politikwissenschaftler und - aus dem Leben gegriffen - beispielsweise eine schwäbische Hausfrau auftauchen, die den Cent so lange in ihrer Hand wendet, bis daraus ein Draht geworden ist. Wir plaudern uns zu Tode, hat Johannes Rau einmal aus Sorge über die Bereitwilligkeit der Politik gesagt, sich auf die Gepflogenheiten der Unterhaltungsindustrie einzulassen. Das Desinteresse am Parlamentarismus hat auch damit zu tun, dass die Politik den Ort ihrer Bestimmung verlassen hat.
Das vormoderne Politikverständnis der Medien
Medien haben ein weitgehend vorgefertigtes Raster, wie Politik funktionieren sollte. Daran orientieren sich ihre Bewertungsmaßstäbe, nach denen sie der Politik zwar nicht permanent, aber doch auffallend off verhältnismäßig schlechte Zeugnisse ausstellen. Es gibt gute Gründe und viele Anlässe, die Politik zu kritisieren. Aber mir drängt sich der Eindruck auf, dass den Beurteilungskriterien des Journalismus in vielen Fällen ein Verständnis von Politik zugrunde liegt, das ziemlich überholt und wirklichkeitsfremd ist - und deshalb hinterfragt werden darf. Ich will das in sechs Schritten tun.
A. Die Geschlossenheit von Parteien ist in diesem Verständnis von Politik positiv besetzt und wird in Kommentaren belohnt. Parteien müssen danach monolithische Blöcke sein, die keine Angriffsfläche auch nur durch die leiseste innerparteiliche Abweichung bieten. Die Vorsitzenden der Parteien müssen Dompteure mit erstklassigen Führungsqualitäten sein, die jeden Ausreißer einfangen und ihren Laden auf einer schnurgeraden Linie halten. Damit hat die SPD schon mal schlechte Karten in den meisten Kommentaren. Sie gilt als zerstritten, flügelstark mit schwachbrüstigem Mittelbau, als desorientiert auf der Suche nach ihrer verlorenen Zeit. Ihr Verschleiß an Parteivorsitzenden ist zweifellos frappierend. Das Image der CDU als Kanzlerwahlverein leuchtet demgegenüber in vergleichenden Kommentaren hell auf.
Dieser Blickwinkel steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu den Einsichten, dass Parteien die Plattformen der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen sein sollen, dass der Schlüssel für den Zulauf von neuen Mitgliedern und Wählern in einer großen innerparteilichen Lebendigkeit liegt, dass es ohne Streitkultur keine tragfähigen und akzeptierten Mehrheitsbeschlüsse geben kann und eine »Basta-Politik« (inzwischen) allen pädagogischen und kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnissen widerspricht.
Das Problem in den politischen Kommentarlagen ist häufig, dass sie bei der Vermessung der Parteien manchmal den Zollstock austauschen. Läuft ein Parteitag zu glatt und ohne Diskussionen, ist er langweilig und handzahm. Geht es hoch her, mit heftigen Debatten und Angriffen, ist er ein Ausweis der Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit. Sackt ein Parteipolitiker bei den Vorstandswahlen von 90 Prozent auf 80
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