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Unterm Strich

Unterm Strich

Titel: Unterm Strich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peer Steinbrück
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weist damit auf eine länger zurückreichende Entstehungsgeschichte. Soweit im September 2009 eine Korrektur der Reformagenda zur Wahl stand, konnten ihre Kritiker wohl kaum damit rechnen, sie über eine Wahlentscheidung zugunsten des christlichliberalen Lagers herbeizuführen. Im Gegenteil: Bei dessen Sieg - so war anzunehmen - würde sich der Wirtschaftsflügel von CDU/ CSU mit dem marktradikalen Potenzial der FDP verbünden und den Zug in eine ganz andere Richtung abfahren lassen.
    Ebenso wenig taugt zur Erklärung der Wahlniederlage der Hinweis auf die 1,1 Millionen ehemaliger SPD-Wähler, die aus Frustration zur Linkspartei abwanderten. Denn die Verengung des Blicks auf diese 20 Prozent der Stimmenverluste der SPD gegenüber der Bundestagswahl 2005 blendet die anderen 80 Prozent des Wählerschwunds aus, die überwiegend ins Lager der Nicht-Wähler sprangen. Ihre Motive dürften vielfältig sein. Sie haben die SPD jedenfalls nicht dadurch herausgefordert, dass sie direkt zur Linkspartei wechselten. Überdies sind 1,4 Millionen ehemaliger Wähler der SPD zur Union und zur FDP gewandert, also mehr als zur Linkspartei. Das ist der eigentlich alarmierende Tatbestand, der die These zulässt, dass die SPD diese Bundestagwahl in der politischen Mitte der Gesellschaft verloren hat.
    Auf die längeren Entwicklungslinien, die zur Lage der SPD im Herbst 2009 führten, werde ich noch eingehen. Hier will ich am kurzen Ende folgende Angebote zur Lösung des Rätsels machen, warum bei der Bundestagswahl ausgerechnet diejenige Partei so tief einbrach, die mit ihrem Staats- und Marktverständnis eigentlich prädestiniert war, in dieser Krise aufzusteigen.

    1. Am Anfang steht eine Glaubwürdigkeitskrise der SPD. Sie hat viel mit dem Bild der Zerstrittenheit und Zerrissenheit zu tun, das sie ausstrahlte. Das gilt für die gesamte Partei mit ihren Flügeln, Sektionen und Zirkeln, lenkt den Blick aber auch auf den Verschleiß von Führungspersonal bis hin zu neun (!) Wechseln im Parteivorsitz seit Willy Brandts Rücktritt vor etwas mehr als 20 Jahren und auf den teilweise argwöhnischen Umgang generell mit ihren Führungspersonen, insbesondere mit ihren Ministern. Dabei stehen diese ganz vorn im Schaufenster der SPD und müssten für das Publikum herausstaffiert werden. Beobachter sprechen von einem Verfall der Führungskultur in der SPD.
    Das öffentliche Erscheinungsbild der SPD wird ferner von dem mangelnden Stolz auf Leistungen und Errungenschaften geprägt. Das geringe Selbstbewusstsein, das aus den Versuchen sprach, auch schwierige Entscheidungen vor der vielbeschworenen Parteibasis und erst recht in der Öffentlichkeit zu vertreten, ließ Raum für Verunsicherungen. Dies korrespondiert mit der nicht seltenen Neigung, nachträglich Positionen und Entscheidungen zu relativieren oder abzuschwächen, weil der Widerstand angeblich zu groß sei.
    All das vermittelt dem Wähler nicht den Eindruck von Führungskraft, Verlässlichkeit und Beständigkeit. Wer soll der SPD vertrauen, wenn sie sich selbst nichts zutraut? Und schließlich wird nur unter Beleidigung der Urteilskraft von Lesern und Zuhörern zu verleugnen sein, dass die Vorgänge und Parallelwelten der SPD in Hessen einen nicht geringen Anteil daran hatten, eine der wertvollsten Münzen im politischen Wettbewerb zu entwerten: Glaubwürdigkeit.
    2. Hartz IV wird die SPD zweifellos ein beträchtliches Kontingent an Zustimmung insbesondere im noch angestammten Wählermilieu gekostet haben. Aber umgekehrt hat auch die Distanzierung der SPD von ihrem eigenen Produkt zu einer erheblichen Abwanderung geführt, weil sie damit einen Reformprozess verleugnete, den weite Teile der Gesellschaft für notwendig hielten und von der SPD auch erwarteten - an den sie nun aber nicht mehr glaubten. Die SPD hat die Agenda 2010 mit Hartz IV weder sich selbst noch ihren Wählern ausreichend erklärt. Und sie hat nahezu widerspruchslos hingenommen, dass Teile der Gewerkschaften eine Zensorenrolle ausübten, die auf eine fundamentale Diskreditierung von Hartz IV und letztlich der Reformpolitik generell hinauslief.
    Dieser Beschuss mit Munition von unverhältnismäßig großem Kaliber verunsicherte die SPD, drohte ihr doch die Gefahr, die Bindungen an ihre Traditionsbataillone in den Gewerkschaften und der organisierten Arbeitnehmerschaft zu verlieren. Also unternahm sie mit der Revision des Arbeitslosengeldes I im Oktober 2008, dem Hamburger Grundsatzprogramm vom November 2008 und dem

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