Unterm Strich
erwischen, verschiebt sich das globale Machtgefüge deutlich.
Der dritte Grund, der auf eine wirtschaftsstrukturelle Schwächung der USA hindeutet, ist das enorme Übergewicht, das die Wall Street gewonnen hat. Spiegelbildlich hat das produzierende Gewerbe anteilsmäßig abgenommen und trägt nur noch mit 15 Prozent zum US-Bruttosozialprodukt bei - in Deutschland sind es etwa 24 Prozent. Während 1998 der jeweilige Anteil des Finanzsektors und des produzierenden Gewerbes an den Gesamtgewinnen der USA noch bei jeweils 25 Prozent lag, hatte sich dies schon fünf Jahre später auf 43 Prozent zugunsten des Finanzsektors bei nur noch 10 Prozent des produzierenden Gewerbes verschoben. Nach den Verlusten der Banken durch die Finanzkrise - und nicht weniger nach dem Wachstumseinbruch für die Realwirtschaft - mögen diese Zahlen heute schon wieder anders aussehen. Entscheidend ist, welch enorme Fehlallokation es in den letzten Jahren dadurch gegeben hat, dass knappes Kapital in den Aufstieg von Banken und in kurzfristige Finanzanlagen statt in reale industrielle Ausrüstungen geflossen ist. Eine Generation von Akademikern suchte ihr Heil als Banker, Rechtsanwälte, Mathematiker oder Informatikexperten in Hedgefonds, Private-Equity-Fonds, bei Kreditversicherern oder Investmentbanken statt als Manager, Ingenieure oder Naturwissenschaftler in Industriefirmen. Die Frage, inwieweit die langjährig führende Industriemacht USA darüber nicht nur strukturell Industrieanteile aufgab - ähnlich wie der Vetter auf den Britischen Inseln -, sondern auch mit den verbliebenen industriellen Kapazitäten an Wettbewerbsfähigkeit verlor, vermag ich ohne genauere Einblicke nicht zu beantworten. Aber es spricht einiges dafür.
In jedem Fall ist in den USA ein Finanzsektor aufgebläht worden, der viel heiße Luft produziert und transportiert, an der man sich weit mehr als die Finger verbrennen kann, ein Sektor, der eigentlich »Dienstleister« für Unternehmen und Bürger sein sollte, sich aber stattdessen auf die Schöpfung immer neuer Finanzprodukte ohne Perspektive eines realen Mehrwerts bis hin zur Kopie von plumpen Schneeballsystemen verlegt hat. Die Dimension des Eigenhandels und des »Kreditersatzgeschäfts« mit Derivaten macht dies deutlich. Von entscheidender Bedeutung ist, dass sich die USA - wie auch das Vereinigte Königreich - mit dieser überdimensionierten Finanzbranche einen Godzilla gezüchtet haben, der beim Fallen das ganze Parkett zertrümmern kann. Sie haben sich nicht nur einer enormen Anfälligkeit ausgesetzt, sondern nicht zu unterschätzen - zudem zugelassen, dass ihre gesamte Wirtschaft von der Marktlogik dieses Monstrums infiziert worden ist. Was immer in und mit ihrem Finanzsektor passiert - die Schließung eines offenen Fonds, abrupte Zinsbewegungen, die Grippe eines Marktteilnehmers, ganz zu schweigen von der Turbulenz auf einem abseits gelegenen Markt für drittklassige Hypotheken -, es schlägt auf ihre gesamte Wirtschaft mit weitaus größerer Wucht durch als in Ländern mit einer ausgewogeneren ökonomischen Struktur.
Gewiss bekommen andere Länder - Deutschland zum Beispiel - die Auswirkungen auch zu spüren, wie wir sehen. Aber der aufgeblähte Finanzsektor macht die USA instabiler und empfindlicher für Ausschläge auf den Finanzmärkten. Die »Meister des Universums«, als die sich die Akteure selbst weit oberhalb aller Normalsterblichen an der Wall Street (und in der City of London) sehen, sind unverhältnismäßig und in nicht zu rechtfertigender Weise einflussreich und wirkungsmächtig geworden. Die Finanzmarktreform, die der US-Kongress Mitte Juli 2010 auf Initiative von Präsident Obama verabschiedete, ist immerhin ein höchst anerkennenswerter Schritt, die Störanfälligkeit des US-Finanzsystems zu vermindern. Sie bedeutet zweifellos den umfassendsten Umbau des US-Bankensystems seit den dreißiger Jahren.
Die angloamerikanischen Finanzplätze werden auch weiterhin eine dominante Rolle spielen, aber sowohl in Asien als auch in der Golfregion werden Finanzzentren wie Shanghai, Hongkong, Singapur oder Dubai weiter aufsteigen und größere Volumina der weltweiten Finanzgeschäfte auf sich zu konzentrieren wissen. Auch in dieser Beziehung wird die Welt multipolarer. Ob das die Stabilität der Finanzmärkte befördert, wird sich erst noch erweisen müssen. Sollten sich die asiatischen Finanzplätze als die wildesten, freiesten und riskantesten der Welt profilieren, werden wir der Wall Street und der
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