Unterm Strich
»kranken Mann« in der Mitte Europas redet keiner mehr. Stattdessen ernten wir Kritik an unserer Exportstärke und Elogen auf das Kraftwerk in Europa. Das britische Wirtschaftsmagazin Economist spricht sogar vom »deutschen Wunder«.
So weit die furiose Ouvertüre. Um jedem Ironieverdacht zu begegnen: Die Melodie ist nicht falsch gestimmt. An Stolz auf vieles, was gelungen ist, fehlt es eher - exemplarisch abzulesen an einem gerüttelt Maß Selbstverleugnung in meiner eigenen Partei. Aus einem solchen Stolz müsste aber das dringend benötigte Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen gezogen werden, um hartnäckige und noch bevorstehende Herausforderungen zu bewältigen. An denen gibt es keinen Mangel. Die guten Nachrichten sollten deshalb nicht zur Selbsttäuschung führen. Im Wettlauf um wirtschaftlichen Wohlstand, für den die Reformagenda 2010 ein etwas verspätetes Fitnessprogramm verordnete, ist längst der nächste Streckenabschnitt bis 2020 eingeläutet. Konditionsschwächen und Auszeiten werden mit Disqualifikation bestraft. Oder wie Gerhard Schröder in seiner Regierungserklärung im Deutschen Bundestag am 14. März 2003 sagte: »Entweder wir modernisieren, und zwar als soziale Marktwirtschaft, oder wir werden modernisiert, und zwar von den ungehemmten Kräften des Marktes, die das Soziale beiseitedrängen.«
Die drohende Erosion des Sozialstaates und Gefährdungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts sind bereits angedeutet worden. Über die Spaltungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt wird noch intensiver zu reden sein. Die Probleme des Umwelt- und Klimaschutzes im Zusammenhang mit Fragen nach der zukünftigen Energieversorgung können, so wichtig sie sind, im Rahmen dieses Buches nicht angemessen berücksichtigt werden. Es verbleibt hier die Beschäftigung mit Schlüsselbegriffen wie Wachstumsmodell, Fachkräftepotenzial, Bildung, Innovation, industrielle Basis, Bankensektor und Staatshaushalt, die von essenzieller Bedeutung für die Zukunft Deutschlands sind, aber erhebliche Mängel oder Risiken aufweisen.
Die Grundsatzfrage, ob Deutschland ein neues Wachstumsmodell braucht, habe ich bereits unter dem Eindruck der Auslandskritik an unserer Exportstärke aufgeworfen. Sie drängt sich aber nicht nur auf, weil wir uns plötzlich mit mahnenden Stimmen aus Nachbarländern konfrontiert sehen, die einen innereuropäischen Ausgleich fordern, sondern auch im Griff der Nachwirkungen und Verschiebungen, die durch die Finanz- und Wirtschaftskrise entstanden sind, muss uns die Diskrepanz zwischen einer starken Exportorientierung und einer verhältnismäßig schwachen inländischen Nachfrage (dem privaten Konsum) beschäftigen. Der Offenheitsgrad der deutschen Wirtschaft - gemessen am Anteil der addierten Exporte und Importe am BIP - hat sich seit Anfang der neunziger Jahre bis 2008 von 52 Prozent auf über 85 Prozent erhöht. Der Anteil des Exports am deutschen BIP stieg im selben Zeitraum von 22 auf 47 Prozent. Vergleichszahlen lauten für China 36 Prozent, für die USA rund 13 Prozent, für Japan rund 17,5 Prozent. Das sei noch einmal all jenen Traumtänzern ins Poesiealbum geschrieben, die ihre Verdauungsprobleme mit der Globalisierung zum politischen Programm erheben und Deutschland eine mehr oder weniger klare Abkopplung von der weltwirtschaftlichen Entwicklung als Antwort auf die Widrigkeiten der Globalisierung empfehlen. Angesichts unseres hohen Verflechtungsgrades und unserer internationalen Bindungen wäre das schlicht illusorisch und, schlimmer noch, gemeingefährlich. Dass eine Partei wie die SPD, die seit ihrer Gründung den Internationalismus in ihrem Gesangbuch mit sich trägt, davon auch nur geringfügig angekränkelt sein könnte, weise ich strikt von mir - schließe es aber nach einigen Erfahrungen mit der Sehnsucht nach eingängigen Antworten auf komplexe Probleme doch nicht ganz aus.
Unzweifelhaft richtig ist die Diagnose, dass Deutschland durch Verlagerungen innerhalb der Weltwirtschaft mit der Folge neuer Konkurrenzmuster und durch Schwankungen des Welthandels vergleichsweise extrem anfällig ist. Dabei könnte der Bezug zum Welthandel auf eine falsche Spur führen. Über 70 Prozent der deutschen Exporte gehen nämlich in europäische Länder, davon über 43 Prozent in den Euroraum, etwa 20 Prozent zusätzlich in die zehn EU-Staaten, die nicht der Währungsunion angehören, und fast 8 Prozent in europäische Länder, die wie Norwegen oder die Schweiz weder Mitglied des Euroraums noch der EU sind. 5
Weitere Kostenlose Bücher