Unternehmen Vendetta
abgeleistet wurde, pflegte man diese Männer trotzdem unter Hinweis auf Alter, Gesundheit oder Fehler in irgendeinem alten Protokoll freizulassen. Einer dieser vor kurzem entlassenen kranken Männer war zuvor wegen dreiundachtzig Morden verurteilt worden.
Das ließ sich weitgehend nur mit Korruption erklären. Staatsanwälte, die sich offensichtlich nicht korrumpieren ließen, hatten dafür sehr hohe Verlustziffern, ebenso Polizeichefs und Richter. Die Durchschnittszahl für Mafia-Morde in Süditalien betrug mehr als tausend im Jahr. Dort fand also ein permanentes Massaker statt, ein Krieg, von dem der Rest der Welt kaum Notiz nahm.
Entführung gegen Lösegeld schien jedoch nicht so recht zum Verhaltensmuster der sizilianischen Mafia zu gehören. Mit solchen Geschäften beschäftigten sich eher die kalabrische und sardische Mafia. Dort hatte sich ein relativ kompliziertes Geschäftssystem entwickelt, bei dem in mehreren Stufen gehandelt wurde. Man kaufte und verkaufte Entführungsopfer auf Bestellung. Auf Sizilien war dies jedoch kein typischer Wirtschaftszweig. Es gab hier bessere Einnahmequellen. Die sizilianischen Organisationen hatten zusammen mit der amerikanischen Cosa Nostra fast ein Weltmonopol im Heroinhandel. Man hatte errechnet, daß die sizilianischen Gangstersyndikate jedes Jahr ein Überschußkapital von mehr als einer Milliarde Dollar einnahmen. Und unter Überschuß wurde das verstanden, was sich nicht wieder in Heroin investieren ließ oder für Kosten und ähnliches gebraucht wurde. Der jährliche Investitionsbedarf der Gangsterfamilien in der Industrie Italiens und der übrigen EG wurde auf eine Milliarde Dollar geschätzt.
Joar versuchte eine Zeitlang auszurechnen, was eine Milliarde in Form von Aktien oder Industriebeteiligungen bedeuten würde, fand jedoch kurz darauf eine neue Berechnung, die sich auf drei Milliarden Dollar an alljährlichem sizilianischem Heroinüberschuß belief. Wie auch immer: es waren Phantasiesummen.
Das ließ einiges befürchten, was den Preis der entführten schwedischen Direktoren betraf. Für den Feind war ein Menschenleben mehr oder weniger eine quantité négligeable. Für den Feind war ein Einkommen von zehn Millionen Dollar, denn dort lag wohl die Schmerzgrenze der schwedischen Waffenindustrie, wenn es darum ging, einen ihrer Kumpel zurückzukaufen, eine unbedeutende Summe. Warum hatte man die beiden Schweden überhaupt entführt?
Joar spürte ein plötzliches Bedürfnis, über seine Lesefrüchte zu sprechen. Er entdeckte, daß es schon nach vier Uhr war, stürzte zum Telefon und bekam einen atemlosen Carl an den Hörer.
»Ja doch, er hat angerufen. Wir sollen heute abend um zehn bei ihm essen. Komm rüber, dann können wir miteinander reden«, erwiderte Carl ein wenig stakkatohaft, während er heftig ein und ausatmete.
Joar klemmte sich seine Aufzeichnungen unter den Arm, überquerte den Korridor und öffnete die quietschende Tür. Er senkte verlegen den Blick. Er ahnte schon, daß Carl nackt sein würde. Ihm fiel es selbst zwar nicht schwer, zwischen Arbeitskollegen und Freund und dem zu unterscheiden, was mehr als Kollege und Freund war. Für andere jedoch, die wußten, daß er homosexuell war, ihn aber sonst nicht kannten, würde es vermutlich komplizierter werden. So kam es, daß er in solchen Situationen immer für andere in Verlegenheit geriet.
Carl war tatsächlich nackt, schweißblank und dampfte. Es hatte den Anschein, als hätte er schon recht lange trainiert.
»Kannst du mir Apfelsinensaft oder so was bestellen? Ich will schnell duschen«, sagte Carl und verschwand im Badezimmer. Joar nahm die Telefonanleitung in die Hand und entdeckte, daß man die Neun wählen mußte, wenn man den Zimmerservice wollte, und kurz darauf hörte er einen wütenden Strom italienischer Wörter. Dann wurde am anderen Ende aufgelegt. Er versuchte den Empfang anzurufen und um die Nummer des Zimmerservice zu bitten. Er wiederholte das Wort mehrmals, und schließlich hatte es den Anschein, als hätte man ihn verstanden und das Gespräch weitergeleitet. Doch dann hörte er wieder dieselbe Stimme, die ihn schon zu Beginn angeblafft hatte. Doch dann kam ihm eine intelligente Lösung, was er zumindest selbst fand, denn er wiederholte mehrmals das Wort Coca-Cola und legte dann auf.
Er entdeckte einen Kühlschrank im Zimmer und ging erleichtert hinüber, doch er erwies sich als leer.
Carl kam mit nassem und zurückgestrichenem Haar und einem großen weißen Badelaken um
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