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Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)

Titel: Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Ruge
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unerwartete Schwierigkeit. Ich hatte mich zu leichten Sprüngen über Trainingshindernisse überreden lassen, war prompt vom Pferd gefallen und hatte mir die Schulter verrenkt. Ich ahnte, dass die russischen Mitarbeiter aus dem ARD -Studio nachfragen würden, und legte mir eine Geschichte zurecht. Ich sei bei einem dänischen Kollegen zu Gast gewesen, wir hätten etwas zu viel Aquavit getrunken, und dann sei ich auf der Treppe ausgerutscht. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Studiomitarbeiter regelmäßig Bericht erstatten mussten, und wollte vermeiden, dass sich unsere KGB -Überwacher die Mühe einer genaueren Untersuchung machten. Zwei Wochen später trat auf einem Empfang ein mir unbekannter Mann auf mich zu und sagte nach ein paar allgemeinen Sätzen: »Herr Ruge, Herr Ruge, Sie sollten nicht so viel Aquavit trinken.« Ich hatte die Geschichte schon vergessen und fragte ihn, was er damit meinte. »Herr Ruge, Herr Ruge«, sagte er noch einmal, »Sie sollten nicht so viel Aquavit mit Ihrem dänischen Kollegen trinken. Sie sehen, wir wissen alles über Sie.« Mit dieser Auskunft war ich sehr zufrieden. Ich fühlte mich sicherer als zuvor, denn offensichtlich wussten die Männer vom KGB nicht über alles Bescheid. Und gleichzeitig stand nun fest, dass jemand aus unserem Studio über unsere Gespräche berichtete.
    Man konnte die Überwacher hin und wieder austricksen, dennoch musste ich immer mit einrechnen, dass der KGB meine Schritte genau verfolgte. Russische Bekannte berichteten beispielsweise vorsichtig davon, dass sie nach unseren Treffen manchmal Hausbesuch bekamen und ein bis zwei Stunden über unser Gespräch ausgefragt wurden. Andere waren am Ausgang des Gebäudes, in dem die Ausländerwohnungen lagen, angehalten und in einen Kellerraum gebracht worden, wo man sie nach ihrem Besuch bei mir befragte. Wenn sie nur von harmlosen, unpolitischen Bemerkungen erzählten, konnte es passieren, dass man ihnen einen Mitschnitt der ganzen Unterhaltung vom Tonband vorspielte. Einigen wurde eine Bestrafung angedroht, falls sie zum Beispiel noch einmal einem Ausländer etwas über die Lebensbedingungen in der Provinzstadt, in der ihre Eltern wohnten, mitteilten.
    Manche meiner Bekannten hielten solche Drohungen trotzdem nicht davon ab, ziemlich waghalsige und freche Dinge zu probieren. Etwa als ein russischer Pianist mich zur Geburtstagsfeier der Tochter des Parteivorsitzenden mitnahm. Galina Breschnewa wohnte vier Häuser von unseren Ausländerwohnungen entfernt. Es war natürlich riskant, so nahe an Breschnews Familie heranzukommen. Aber mein Freund meinte, bei Galina Breschnewa seien meist eher unernste Leute eingeladen, die keine Fragen nach meiner Herkunft stellen würden. Ihr Vater komme nicht zu den Partys seiner Tochter. Er sei unzufrieden mit ihr, weil sie zuerst einen Tigerdompteur und dann einen hohen Parteifunktionär aus dem Innenministerium geheiratet habe. Seit sie nun mit einem Sänger liiert sei, den alle »Pjotr, den Zigeuner« nannten, meide er ihre Einladungen. Aber diesmal war es anders. Ich war keine zehn Minuten unter den fünfzig oder sechzig Gästen, die sich mit dem Glas in der Hand in Galinas Wohnung drängten, als mein Bekannter mich am Arm in die Küche zog: Zwei Sicherheitsbeamte hätten angekündigt, Leonid Breschnew werde den Geburtstag seiner Tochter mitfeiern. Kaum war der erste Mann des Staates im Wohnzimmer, holten mich einige der russischen Gäste aus der Küche zur Wohnungstür und gingen mit mir in der Mitte schnell die Treppe hinunter, um mich auf der Straße abzusetzen. Am nächsten Tag hörte ich, was ich verpasst hatte: Der Schauspieler und Liedermacher Wladimir Wyssozki, wie häufig schon ziemlich betrunken, hatte Breschnew etwas von einem »Scheißland« erzählt, in dem alles immer nur schlechter werde und nichts funktioniere, und dem waren noch einige kräftige Bemerkungen über den Kommunismus gefolgt, ehe seine Freunde ihn in die Küche schoben.
    In den Jahren der Chruschtschow-Ära hatte die Sowjetunion einen Prozess der Öffnung erlebt. Die sogenannte Tauwetterperiode, die schon bald nach Stalins Tod und dem Ende seiner Schreckensherrschaft eingesetzt hatte, war eine Zeit größerer Freiheiten und neuer Experimente gewesen, vor allem auf kulturellem Gebiet. So hatten die jüngeren Moskauer zu Beginn der sechziger Jahre eine neue Generation von Dichtern entdeckt: etwa Bella Achmadulina, die zarte und zähe Lyrikerin, Andrej Wosnessenski, der expressionistische Gedichte

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