Untitled
Verlangen nach Stabilisierung und seinem nach Kontrolle ein System.
Julia hatte nie vorgehabt, mit einem Mann zusammenzuziehen. Mit überhaupt keiner anderen Person. Aber dann hatten sich praktische Probleme ergeben: Bremen und Berlin, wo sie lebte, lagen mit einem Mal derart weit auseinander, dass die Bahnfahrten am Wochenende sich wie Reisen anfühlten. Dagegen hatte sie nichts. Überall wo sie nicht war, wollte sie sein. Es war sogar so, dass sie sich auf diesen Bahnfahrten nach Bremen trotz der ereignislosen Landschaft vor den Fenstern et cetera extrem wohlgefühlt hatte – in diesem Schwebezustand zwischen Abfahrt und Ankunft (warum eigentlich A und B?) Aber wenn der Zug endlich langsamer wurde und in den Köcher der Bahnhofshalle einfuhr, verschwand ihre Euphorie. Unweigerlich geriet sie bald in einen Dämmerzustand, der ihr nicht unangenehm war, aber eben schlecht wirkte, wenn da einer auf einen gewartet hatte, um etwas mit einem anzufangen, oder gar auf gemeinsame Unternehmungen hoffte. Anfänglich hatten sie sich an den Wochenenden noch abwechselnd besucht, aber dann war er es gewesen, der es aussprach: Warum die kostbare Zeit in Bremen verbringen, wo Berlin doch so viel mehr an Möglichkeiten zubieten hatte? Zumal dort auch ihre Freunde lebten. Und so hatte es sich im Wortsinne eingependelt: An den Wochenenden lebte Frederick fortan bei ihr. Sie hatte das unterschätzt – nur die Wochenenden. Denn es gab ja noch Semesterferien, Weihnachten, Ostern und und. Behutsam, unnachgiebig und auf ihre schwer zu beschreibende Art war sie einige Male noch zu ihm nach Bremen gereist, hatte es als ihren ausdrücklichen Wunsch vorgebracht, ihm dabei zu helfen, seine Zweizimmerwohnung dort heimelig zu gestalten – doch das fruchtete nicht. Nun war es ja nicht so, dass sie auch nur irgendeinen Wert auf Einrichtung legte – im Gegenteil: für Julia bestand die schönste Möblierung in Leere. Sie verbrachte ihre Zeit gern liegend, deshalb besaß sie zwei famose Matratzen, aber schon bei Stühlen, einem Tisch fing es an: ihr Unbehagen. Lampen waren wichtig, weil man ohne die des Nachts nicht lesen konnte (und Julia hatte ein persistentes Schlafproblem). Aber gelesene Bücher aufbewahren? Romane verschenkte sie ohne Bedauern. Seit kurzem hingen in Berlin kleine Regale an den Platanen der Muldensteinstraße: für Bücherspenden, das fand Julia gut. Frederick konnte nichts wegschmeißen. Er hatte gute Argumente dafür. Zum Beispiel: Dass man alles irgendwann einmal wieder gebrauchen konnte. Fragte sich bloß, wann – beziehungsweise: das fragte Julia eben nicht mehr, da er ihr, wie so oft, bewiesen hatte, dass er recht behalten sollte – aber eben genau nicht rechthaberisch, sondern auf seine, auf die von ihr adaptierte sanfte Tour. Es war Ostermontag, also der Tag, an dem die Lebensmittel definitiv zur Neige gehen, weil kein normaler Mensch für eine derart lange Strecke von verkaufsfreien Feiertagen Vorräte halten lernt, und Julia starb beinahe schon an ihrem Hunger, da zauberte er die längst vergessen geglaubte Dose mit sehr feinen Möhrchen und Erbsen hervor, kochte sehr feine Nudeln dazu, salzte genau so, wie sie es liebte und – tja. Niemals wieder würde sie etwas gegen sein nicht Wegschmeißen mehr sagen. Können. Jedenfalls nicht laut. Insgeheim aber halt schon. Innerlich. Wo es weit war und freundlich zu Julia. Wo sie machen durfte und bleiben lassen, wie es ihr gefiel. War das ihre Seele?
Bei den ersten Besuchen in Fredericks Wohnung hatte sie gedacht: wird schon noch. Der prokrastiniert. Das war in ihren Kreisen nicht unüblich, dass man dem Provisorischen frönte, um eine grundsätzliche Entspanntheit, eigentlich aber Unspießigkeit zu demonstrieren. Sie kannte welche, Akademikerpärchen wie sie beide, die lebten in Wohnungen, die noch wie Wohngemeinschaften zu Studienzeiten gestaltet waren: mit Altglassammlungen auf dem Küchenboden, mit Fichtenholzregalen voller Bücher (die Rücken nach Wissensgebieten sortiert), die tapezierten Wände im sogenannten Schlafzimmer in einem gut gemeinten Farbton gerollt. Dagegen gab es kaum etwas einzuwenden. Außer: Diese Haltung schlug bei besagten Personen leider auch auf deren Lebensführung durch. War man dort zum Nachtessen eingeladen, gab es entweder bewusst originelle (und verlässlich missratene) Kreationen mit Ingwer und Granatäpfelkernen, oder: À la Jamie Oliver. Dessen Einfluss reichte ja inzwischen bis nach Sydney, wie sie beide anlässlich der gestrigen
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