Untitled
hervor, ein Amateurboxer und Freund Pirandellos, dessen Schwester Vera die Rolle der Stieftochter spielte (und zwar hervorragend, wie die Zeitungen berichteten), auch ein Lyriker tat sich hervor, Arnaldi, der mit den Schultern die Türe einer Loge einrammte, in der Leute saßen, die pfiffen. Oft waren Rufe zu hören wie »Hampelmann« oder »Irrenhaus«.
Pirandello, der seine Tochter Lietta mitgebracht hatte, schienen die Vorgänge überhaupt nicht zu beeindrucken, so daß er sich nach dem dritten Akt so an der Rampe zeigte, als würde er sich für die Pfiffe und den Protest bedanken. Es war wohl auch so, daß man mit Geldmünzen auf ihn geworfen hat.
Wir sind mehr als nur überzeugt, daß die Mehrheit der ablehnenden Zuschauer dunkel spürte, daß sich an diesem Abend im Teatro Valle etwas Unumkehrbares ereignete, nämlich daß das Theater über kurz oder lang nicht mehr so sein würde wie vorher. Sie verteidigten eine Vorstellung von Theater, die an diesem Abend aus den Angeln gehoben wurde.
Pirandello wartete eine ganze Stunde, bevor er mit seiner
Tochter das Theater verließ, draußen warteten eine Menge Leute auf ihn, und sie schienen nicht von freundschaftlichen Gefühlen bewegt zu werden. Als er sich endlich entschloß, ging er »durch den Dienstboteneingang auf die Gasse, eine düstere Gasse, in der nicht einmal eine Katze herumschlich« (Vergani). Er wollte unbemerkt die Straßenbahnhaltestelle erreichen, die Ankunft eines Taxis hätte die Gewalttäter argwöhnisch werden lassen. Aber es verlief anders. Orio Vergani schrieb:
»Er kam heraus, mit seiner Tochter am Arm. Im Licht
der ersten Laterne wurde er erkannt. Man stellte sich um ihn, um ihn zu beschützen. Schöne Damen lachten und wiederholten mit lackierten Mündern: ›Irrenhaus!‹ Elegante junge Männer mit weißen Krawatten lachten höhnisch und sagten Beleidigendes. Die Tochter am Arm des Vaters zitterte und konnte beinahe keinen Schritt mehr gehen. Weitere Menschen kamen herbeigelaufen, pfiffen und lachten. Auch die Polizisten wußten nicht, ob sie zugunsten ›Pirandellos, des Verrückten‹ eingreifen sollten. Ein Taxi näherte sich. Im Licht der kleinen Piazza schleuderte man Pirandello Beleidigungen ins Gesicht, dessen Lippen einen leichten Anflug von Ironie erkennen ließen. Solange das Auto nicht abgefahren war, mußten wir alles tun, um es nicht zu Handgreiflichkeiten kommen zu lassen. Er ließ die Tochter einsteigen. Dann stieg er selbst ein, und hinter dem kleinen Fenster sah man, während er die Adresse seines weit entfernten traurigen Hauses nannte, wo er am nächsten Tag wieder zu arbeiten beginnen würde, noch sein Gesicht. Die eleganten jungen Männer warfen Geldstücke. Auch die Damen, die in aller Eile ihre kostbaren Handtaschen geöffnet hatten. Ich höre noch das Geklimper des Kupfers auf dem Pflaster, das Lachen und die Beleidigungen.«
Gesagt werden muß, daß in Mailand am Abend des 27.
Septembers desselben Jahres das Stück, von derselben Schauspielertruppe gespielt, vom Publikum äußerst konzentriert verfolgt wurde und mit einem Triumph endete. Die Mailänder hatten alle Muße sich vorzubereiten, weil sie den inzwischen gedruckten Text lesen konnten.
An jenem Abend befindet sich unter denen, die auf der Piazzetta hinter dem Teatro Valle einen schützenden Kreis um Pirandello und seine Tochter vor den Ausschreitungen der wild gewordenen Zuschauer bildeten, ein junger Mann, der ein paar Blicke mit der völlig verängstigten Lietta wechselt. Dieser junge Mann ist Manuel Aguirre, Militärattache an der chilenischen Botschaft in Rom.
VIELE TRÄNEN
Also: Lietta und Manuel lernen sich am Abend der Ur
aufführung der Sechs Personen kennen und kaum fünfzig Tage später heiraten sie. Ein Blitzstrahl, ganz fraglos, aber man muß auch bedenken, daß die nach der Einlieferung der Mutter aus dem Florentiner Exil heimgekehrte Lietta jetzt klar erkennt, was ihr Los sein würde, wenn sie sich ihm nicht rechtzeitig entzieht: sie würde, ohne ein eigenes Leben gehabt zu haben, im Schatten ihres Vaters verblühen. Und ihr ist klar, daß Luigi nicht einen Finger rühren würde, um diesen Gang der Dinge zu verändern, getrieben, wie er ist, von einer Art egoistischer Blindheit gegenüber der sicher nicht glücklichen Lage seiner Tochter. Diese Ehe hat mithin alle Anzeichen einer Flucht aus dem väterlichen Haus. Eine Flucht, die sieben Monate später wirklich stattfindet, als Lietta und ihr Mann sich in Genua nach Chile
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