Untitled
Ich glaube, ich nickte ein, dort an die Reling gelehnt, bis mich ein plötzliches gellendes Geschrei, der überwältigende Ausbruch aufgestauter und rätselhafter Raserei in verdutztem Staunen auffahren ließ. Das Geschrei brach unvermittelt ab, und das tiefe Summen, mit seiner Wirkung eines hörbaren und beruhigenden Schweigens, dauerte fort. Ich warf zufällig einen Blick in die kleine Kabine. Ein Licht brannte darin, doch Herr Kurtz war nicht da.
Vielleicht hätte ich einen Schrei ausgestoßen, wenn ich meinen Augen getraut hätte. Aber anfangs traute ich ihnen wirklich nicht – es schien so unmöglich. Tatsache ist, daß ich vollkommen gelähmt war vor jäher, nackter Angst, vor reinem, begrifflosem Schrecken, der mit keiner klarumrissenen körperlichen Gefahr verbunden war. Was dieses Gefühl so überwältigend machte, war – wie soll ich's nennen – der moralische Schock, den ich erlitt, als sei etwas ganz und gar Ungeheuerliches, dem Denken Unerträgliches und der Seele Verhaßtes unvermutet über mich hereingebrochen. Das dauerte freilich nur den winzigsten Bruchteil einer Sekunde, und dann stellte sich das gewohnte Gefühl alltäglicher, tödlicher Gefahr, der Gedanke an die Möglichkeit eines plötzlichen Überfalls und Gemetzels oder von etwas Derartigem, dessen Nähe ich deutlich spürte, wirklich sehr willkommen und tröstlich ein. Es beruhigte mich in der Tat so sehr, daß ich keinen Alarm schlug.
An Deck, keine drei Fuß weit von mir entfernt schlief ein Agent, fest in seinen Mantel gewickelt, auf einem Stuhl. Die Schreie hatten ihn nicht geweckt; er schnarchte sehr leise; ich überließ ihn seinem Schlummer und sprang an Land. Ich verriet Herrn Kurtz nicht – mir war aufgetragen worden, ihn um keinen Preis zu verraten – es stand geschrieben, ich solle dem Alp meiner Wahl treu bleiben. Ich war ängstlich bemüht, alleine mit diesem Schatten fertig zu werden –, und bis auf den heutigen Tag weiß ich eigentlich nicht, warum ich so eifersüchtig darauf bedacht war, die eigentümliche Schwärze jener Erfahrung mit niemandem zu teilen.
Sobald ich auf der Uferböschung stand, sah ich eine Spur – eine breite Spur im Gras. Ich erinnere mich noch des Jubels, mit dem ich mir sagte: ›Er kann nicht laufen – er kriecht auf allen vieren –, da bin ich ihm also auf die Schliche gekommen.‹ Das Gras war taunaß. Ich schritt, mit geballten Fäusten, rasch dahin. Ich glaube, ich malte mir dunkel aus, wie ich über ihn herfallen und ihm eine Tracht Prügel versetzen würde. Ich weiß nicht. Mir spukten irgendwelche blödsinnigen Gedanken durch den Kopf. Die strickende alte Frau mit der Katze wollte mir nicht aus dem Sinn gehen als eine höchst unliebsame Drahtzieherin in solch einer Geschichte. Ich sah eine Reihe Pilger vor mir, die mit ihren Winchester-Flinten von der Hüfte aus Blei in die Luft feuerten. Ich dachte, ich würde nie zum Dampfer zurückfinden, und stellte mir vor, wie ich allein und unbewaffnet bis ins hohe Alter in diesen Wäldern vegetieren würde.
Solch närrisches Zeug – wißt ihr. Und ich erinnere mich noch, wie ich das Hämmern der Trommeln mit dem Pochen meines Herzens verwechselte und wie befriedigt ich über dessen ruhige Regelmäßigkeit war.
Indessen folgte ich der Spur – blieb dann stehen, um zu lauschen. Die Nacht war klar; ein dunkelblauer Raum, vom Tau und Sternenlicht durchfunkelt; und schwarze Dinge standen sehr still darinnen. Mir war, als sähe ich eine schattenhafte Bewegung vor mir. Ich war meiner Sache in allen Stücken seltsam sicher in dieser Nacht. Ja, ich verließ tatsächlich die Fährte und rannte in großem Bogen weiter (ich glaube wahrhaftig, ich lachte mir dabei ins Fäustchen), um vor jenes sich regende Etwas, jene Bewegung zu gelangen, die ich dort gesehen – wenn ich überhaupt etwas gesehen hatte. Ich überlistete Kurtz, als handle es sich um ein knabenhaftes Spiel.
Ich fand ihn, und hätte er mich nicht kommen gehört, so wäre ich obendrein noch über ihn gestolpert; doch er war rechtzeitig aufgestanden. Er erhob sich unsicher, lang, blaß, vag, wie ein der Erde entströmender Dampf, und schwankte sacht, nebelhaft und schweigend vor mir, während hinter mir die Lagerfeuer drohend zwischen den Bäumen aufloderten und das Gemurmel vieler Stimmen aus dem Wald hervordrang. Ich hatte ihm geschickt den Weg verlegt; doch als ich ihm dann wirklich gegenüberstand, schien ich zur Besinnung zu kommen und die Gefahr in ihrem
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