Untitled
wolle sie sagen: ich – ich allein weiß, um ihn zu trauern, so wie es
ihm gebührt.
Doch während wir uns noch die Hände reichten, trat ein Blick so entsetzlicher Trostlosigkeit in ihr Gesicht, daß mir aufging, sie sei eines jener Geschöpfe, die nicht ein Spielball der Zeiten sind. Für sie war er erst gestern gestorben. Und, Himmel, ja! Der Eindruck war so machtvoll, daß er auch für mich erst gestern gestorben zu sein schien – nein, erst in dieser Minute. Sie und ihn sah ich in einem und demselben Augenblick – seinen Tod und ihren Kummer –, ich sah ihren Kummer im Augenblick seines Todes. Versteht ihr das? Ich sah die beiden zusammen – ich hörte die beiden zusammen. Sie hatte schwer atmend gesagt: ›Ich bin übriggeblieben‹, während meine wachen Ohren, vermischt mit dem Klang ihrer verzweiflungsvollen Trauer, das abschließende Flüstern seiner ewigen Verdammung zu hören glaubten. Ich fragte mich, was ich dort eigentlich suchte, und verspürte eine panische Angst im Herzen, so als sei ich da an einen Ort geraten, wo greuliche und aberwitzige Mysterien abgehalten werden, die nicht für menschliche Augen bestimmt sind. Sie führte mich zu einem Stuhl.
Wir setzten uns. Ich legte sanft das Paket auf den kleinen Tisch, und sie ließ ihre Hand darauf ruhen … ›Sie kannten ihn gut‹, murmelte sie nach einem Augenblick trauervollen Schweigens.
›Die Vertrautheit wächst schnell dort draußen‹, sagte ich. ›Ich kannte ihn so gut, wie ein Mann einen anderen zu kennen vermag.‹
›Und Sie bewunderten ihn‹, sagte sie. ›Es war unmöglich, ihn zu kennen und ihn nicht zugleich auch zu bewundern. Nicht wahr?‹
›Er war ein erstaunlicher Mann‹, sagte ich unsicher. Dann fuhr ich unter der flehenden Starrheit ihres an meinen Lippen hängenden Blickes fort: ›Es war unmöglich, ihn nicht zu …‹
›Zu lieben‹, beendete sie eifrig den Satz und ließ mich erschrocken verstummen. ›Wie wahr! Wie wahr! Doch wenn Sie bedenken, daß niemand ihn so gut kannte wie ich! Ich besaß sein edles Vertrauen in vollem Ausmaß. Ich kannte ihn am besten!‹
›Sie kannten ihn am besten‹, wiederholte ich. Und vielleicht war dem wirklich so. Doch mit jedem gesprochenen Wort wurde es dunkler im Zimmer, und nur ihre Stirn blieb – glatt und weiß – erleuchtet von dem unauslöschlichen Licht des Glaubens und der Liebe.
›Sie waren sein Freund‹, fuhr sie fort. ›Sein Freund‹, wiederholte sie ein wenig lauter. ›Sie müssen es gewesen sein, wenn er Ihnen das hier gab und Sie zu mir sandte. Ich habe das Gefühl, ich dürfe zu Ihnen sprechen – und, oh! Ich muß sprechen. Sie sollen wissen – Sie, der Sie seine letzten Worte gehört haben –, daß ich seiner wert war … Es ist nicht Stolz … Ja! Ich bin stolz zu wissen, daß ich ihn besser verstand als jeder andere auf dieser Welt – er selbst hat es gesagt. Und seit seine Mutter tot ist, habe ich keinen Menschen mehr – niemanden, dem ich – dem ich …‹
Ich lauschte. Die Dunkelheit verdichtete sich. Ich war mir nicht einmal sicher, ob er mir das richtige Bündel gegeben hatte. Ich hatte den Verdacht, er habe mir eigentlich einen anderen Stoß seiner Papiere anvertrauen wollen, der, wie ich bemerkte, nach seinem Tod vom Direktor unter einer Lampe durchgesehen wurde. Und sie redete weiter und fand Linderung für ihren Schmerz in der Gewißheit meines Mitgefühls; sie redete, so wie durstige Menschen trinken. Ich hatte vernommen, ihr Verlöbnis mit Kurtz sei von ihren Verwandten nicht gebilligt worden. Er sei nicht reich genug gewesen, oder sonst etwas. Und wirklich weiß ich nicht, ob er nicht Zeit seines Lebens ein armer Schlucker war. Er hatte mir Grund zu der Annahme gegeben, es sei der Verdruß über seine beträchtliche Armut gewesen, der ihn dort hinaus trieb.
›… Wer wäre nicht sein Freund geworden, der ihn einmal reden hörte?‹ sagte sie. ›Er zog die Menschen mit dem, was ihr Bestes war, an sich.‹ Sie sah mich eindringlich an. ›Es ist die Gabe der Großen‹, fuhr sie fort, und der Klang ihrer leisen Stimme schien von jenen anderen Klängen begleitet zu sein, den von Geheimnis, Verzweiflung und Trauer erfüllten Klängen, die ich gehört hatte – dem Murmeln des Flusses, dem Sausen der im Winde sich biegenden Bäume, dem Summen der Menschenmassen, dem schwachen Hall unverständlicher, aus der Feme gerufener Worte, dem Wispern einer Stimme, die über die Schwelle einer ewigen
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