Untitled
an Bord hatten; ich rackerte mich in einem Schrotthaufen ab – bis mir der Schüttelfrost so zusetzte, daß ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.
Eines Abends, als ich mit einer Kerze hereinkam, war ich überrascht, ihn ein wenig zittrig sagen zu hören: ›Ich liege hier im Finstern und warte auf den Tod.‹ Das Licht stand keinen Fuß weit von seinen Augen entfernt. Ich zwang mich zu murmeln: ›Ach, Unsinn!‹ und stand, wie gebannt, über ihn gebeugt.
Nie habe ich etwas gesehen, das dem Wandel, der mit seinen Gesichtszügen vor sich ging, gleichgekommen wäre, und ich hoffe, nie wieder so etwas sehen zu müssen. Oh, ich war nicht gerührt. Ich war fasziniert. Es war, als zerrisse ein Schleier.
Ich sah auf diesem Elfenbeingesicht den Ausdruck düsteren Stolzes, unbarmherziger Gewalt, feigen Entsetzens – durchdringender und hoffnungsloser Verzweiflung. Durchlebte er sein Leben noch einmal in allen Einzelheiten der Begierde, Versuchung und Hingabe während jenes höchsten Augenblickes erfüllten Wissens? Flüsternd schrie er einem Bild, einer Vision zu – zweimal schrie er, ein Schrei, der nicht mehr war als ein Hauch:
›Das Grauen! Das Grauen!‹
Ich blies die Kerze aus und verließ die Kabine. Die Pilger aßen in der Messe zu Abend, und ich setzte mich auf meinen Platz dem Direktor gegenüber, der die Augen hob, um mir einen fragenden Blick zuzuwerfen, dem ich
aber mit Erfolg auswich.
Er lehnte sich zurück, gelassen, mit jenem besonderen Lächeln, das die ungelüfteten Tiefen seiner Gemeinheit versiegelte. Ein beständiger Regen kleiner Fliegen prasselte auf die Lampe, auf das Tischtuch, auf unsere Hände und Gesichter. Plötzlich streckte der Boy des Direktors seinen dreisten schwarzen Kopf zur Tür herein und sagte im Ton schneidender Verachtung: ›Mistah Kurtz – er tot.‹
Alle Pilger stürmten hinaus, um nachzuschauen. Ich blieb sitzen und fuhr mit dem Essen fort. Ich nehme an, daß man mich für barbarisch gefühllos hielt. Freilich aß ich nicht viel. In dem Raum war eine Lampe – Licht, wißt ihr-, und draußen war es so scheußlich, scheußlich finster. Ich ging nicht mehr in die Nähe des erstaunlichen Mannes, der ein Urteil über die Abenteuer seiner Seele auf dieser Erde gefällt hatte. Die Stimme war dahin. Was war sonst dagewesen? Aber ich bin mir natürlich bewußt, daß die Pilger am nächsten Tag etwas in einem schlammigen Loch begruben.
Und dann begruben sie, beinahe, auch mich.
Wie ihr jedoch seht, hatte ich keine Lust, Kurtz nachzufolgen.
Ich folgte ihm auch nicht. Ich blieb, um den Alptraum auszuträumen und um noch einmal meine Treue gegen Kurtz zu bewähren. Schicksal. Mein Schicksal! Ein drolliges Ding, das Leben – dieser rätselhafte Aufwand erbarmungsloser Logik zu einem so nichtigen Zweck. Das äußerste, was man sich von ihm erhoffen darf, ist ein wenig Selbsterkenntnis – die zu spät kommt –, eine Ernte unauslöschlicher Reue. Ich habe hart mit dem Tod gerungen. Man kann sich keinen weniger spannenden Zweikampf denken. Er findet statt in einem unfaßbaren Grau, ohne festen Stand, ohne irgend etwas, ohne Zuschauer, ohne Geschrei, ohne Ruhm, ohne das große Sieges' verlangen, ohne die große Furcht vor der Niederlage – findet statt in einer eklen Atmosphäre schalen Zweifels, ohne viel Glauben an das Recht auf der eigenen Seite, zu schweigen von dem an das Recht des Gegners. Wenn dies der Wahrheit letzter Schluß ist, dann ist das Leben ein größeres Rätsel, als es die meisten von uns sich vorstellen. Um ein Haar wäre ich in die Lage gekommen, eine letzte Äußerung zu tun, und ich mußte zu meiner Beschämung entdecken, daß ich wahrscheinlich nichts zu sagen gehabt hätte. Dies ist der Grund, weshalb ich behaupte, Kurtz sei ein bemerkenswerter Mann gewesen. Er hatte etwas zu sagen. Er sagte es. Da ich selber über die Grenzlinie gespäht, verstehe ich die Bedeutung seines Blickes besser, der die Kerzenflamme nicht mehr sah, doch groß genug war, das ganze Universum zu umfassen, eindringlich genug, all die Herzen zu durchschauen, die da im Finstern schlagen. Er hatte die Summe gezogen – er hatte das Urteil gefällt. ›Das Grauen!‹ Er war ein bemerkenswerter Mensch. Schließlich war dies der Ausdruck einer Art von Glauben, der aufrichtig war, Überzeugungskraft besaß, dessen Geflüster von Empörung durchzittert wurde, der das abstoßende Antlitz einer flüchtig erblickten Wahrheit trug – das
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