Untitled
Handels und der Verwaltung. Er führte sodann den Anspruch der Wissenschaft ins Feld. ›Es wäre ein unabsehbarer Verlust, wenn‹, etc., etc. Ich bot ihm den Bericht über die ›Unterdrückung primitiver Bräuche‹ an, von dem ich das Postskript abgerissen hatte. Er nahm ihn begierig entgegen, rümpfte jedoch, nachdem er ihn gelesen, verächtlich die Nase. ›Dies ist nicht das, was wir uns zu erhoffen berechtigt fühlten‹, bemerkte er. ›Erhoffen Sie nichts sonst‹, sagte ich. ›Es sind nur Privatbriefe erhalten.‹ Er zog sich unter Androhung gerichtlicher Untersuchungen zurück, und ich begegnete ihm nie wieder; doch ein anderer Kerl, der sich für Kurtzens Vetter ausgab, besuchte mich zwei Tage später und war begierig, Einzelheiten über die letzten Augenblicke seines lieben Verwandten zu erfahren. Bei Gelegenheit gab er zu verstehen, daß Kurtz im Grunde ein großer Musiker gewesen sei. ›Er hatte das Zeug zu etwas Gewaltigem‹, sagte der Mann, der, glaube ich, Organist war, mit glattem, grauem Haar, das über einen speckigen Kragen floß.
Ich hatte keinen Anlaß, seine Behauptung in Frage zu stellen; und bis auf den heutigen Tag vermag ich nicht zu sagen, was Kurtzens Beruf eigentlich war, ob er überhaupt einen hatte – welches das größte seiner Talente war. Ich hatte ihn für einen Maler gehalten, der nebenher für die Zeitungen schrieb, oder auch für einen Journalisten, der malte – doch sogar sein Vetter (der während unserer Unterhaltung Tabak schnupfte) konnte mir nicht sagen, was er eigentlich war – genau war. Er war ein Universalgenie – in diesem Punkt gab ich dem alten Knaben recht, der sich daraufhin geräuschvoll in ein großes Baumwolltaschentuch schneuzte und in greisenhafter Aufregung zurückzog. Er nahm einige belanglose Familienbriefe und Denkschriften mit. Schließlich tauchte ein Journalist auf, begierig, etwas über das Geschick seines ›lieben Kollegen‹ zu erfahren. Dieser Besucher erklärte mir, der Kurtz angemessene Wirkungsbereich sei die Politik gewesen, ›ihre volkstümlichere Seite‹. Er hatte buschige, gerade Augenbrauen, borstiges, kurzgeschnittenes Haar, ein Augenglas an einem breiten Band, und als er leutselig zu werden begann, gestand er mir, seiner Meinung nach habe Kurtz eigentlich nicht im geringsten zu schreiben verstanden – ›doch, Himmel! wie dieser Mann reden konnte! Er riß große Versammlungen mit sich fort. Er war erfüllt von Glauben – verstehen Sie? – erfüllt von Glauben. Er brachte es fertig, an alles zu glauben – alles. Er hätte einen glänzenden Führer einer extremistischen Partei abgegeben.‹
›Welcher Partei?‹ fragte ich. ›Jeder beliebigen Partei‹, antwortete der andere.
›Er war ein – ein – Extremist.‹ Ob ich nicht dieser Ansicht sei? Ich bejahte. Ob ich wisse, fragte er mit plötzlich erwachender Neugier, ›was ihn wohl bewogen habe, dort hinaus zu gehen?‹
›Ja‹, sagte ich und händigte ihm unverzüglich jenen berühmten Bericht aus, damit er ihn zur Veröffentlichung bringe, wenn er ihn dafür geeignet hielte. Er überflog ihn hastig, murmelte dabei unentwegt vor sich hin, meinte, ›es werde angehen‹, und trollte sich mit diesem Plunder.
So behielt ich schließlich nur noch ein schmales Paket Briefe und das Bildnis des Mädchens. Sie kam mir wunderschön vor – ich meine, sie hatte einen wunderschönen Ausdruck. Ich weiß, daß auch das Sonnenlicht dazu gebracht werden kann zu lügen, doch man hatte das Gefühl, daß keine Manipulation von Licht und Pose jenen zarten Hauch der Wahrhaftigkeit auf diesen Zügen hätte hervorbringen können. Sie schien bereit, einem ohne geistige Vorbehalte, ohne Argwohn, ohne einen Gedanken an sich selbst zuzuhören. Ich beschloß, zu ihr zu gehen und ihr eigenhändig das Bildnis und jene Briefe zurückzugeben.
Neugierde? Ja; und vielleicht noch ein anderes Gefühl. Alles, was Kurtz gewesen, war meinen Händen entglitten: seine Seele, sein Leib, seine Handelsstation, seine Pläne, sein Elfenbein, seine Laufbahn. Es blieben nur seine Erinnerung und seine Zukünftige – und auch diese wollte ich in gewisser Weise der Vergangenheit ausliefern –, wollte alles, was mir von ihm geblieben war, persönlich jenem Vergessen überantworten, das unser aller Los ist. Ich verteidige mich nicht. Ich hatte keine klare Vorstellung von dem, was ich wirklich wollte. Vielleicht war es der Impuls einer unbewußten Treue oder die Auswirkung eines ironischen
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