Untitled
seltsame Gemisch aus Gier und Haß. Nicht meine äußerste Not ist es, deren ich mich am deutlichsten erinnere – diese Vision eines Grau in Grau ohne Konturen, erfüllt von physischer Pein, diese gleichgültige Verachtung, die man gegen die Vergänglichkeit aller Dinge – sogar dieser Pein – hegt. Nein! Seine äußerste Not ist es, die ich durchlebt zu haben scheine. Freilich, er hatte jenen letzten Schritt getan, war über die Schwelle getreten, während mir verstattet war, meinen zaudernden Fuß zurückzuziehen. Und vielleicht liegt hierin der ganze Unterschied; vielleicht sind alle Weisheit und alle Wahrheit und alle Aufrichtigkeit gerade in diesem unfaßlichen Moment zusammengedrängt, in welchem wir über die Schwelle des Unsichtbaren treten. Vielleicht! Ich kann bloß hoffen, die Summe, die ich gezogen hätte, wäre nicht ein Wort gleichgültiger Verachtung gewesen. Besser noch sein Ausruf – viel besser. Er war eine Bejahung, ein moralischer Sieg, der durch unzählige Niederlagen, durch abscheuliche Schrecken, durch abscheuliche Befriedigungen erkauft worden war. Doch es war ein Sieg! Das ist es, weshalb ich Kurtz bis zum letzten die Treue hielt und sogar darüber hinaus, als ich viel später noch einmal – nicht seine eigene Stimme –, sondern das Echo seiner großartigen Beredsamkeit hörte, die von einer Seele auf mich zurückgeworfen wurde, welche so durchscheinend war wie ein Kristall.
Nein, sie begruben mich nicht, obwohl es da eine Zeitspanne gibt, deren ich mich nur nebelhaft erinnere, mit schaudernder Verwunderung, wie der Durchquerung einer unfaßlichen Welt, in der es keine Hoffnung gab und kein Verlangen. Ich fand mich plötzlich in der gruftartigen Stadt wieder, und mich schmerzte der Anblick der Leute, die durch die Straßen eilten, um einander ein wenig Geld abzuluchsen, um ihr elendes Geköch hinunterzuschlingen, um ihr ungesundes Bier zu trinken, um ihre sinnlosen und närrischen Träume zu träumen. Sie nahmen meine Gedanken über Gebühr in Anspruch. Sie waren Eindringlinge, deren Lebensweisheit mir wie eine ärgerliche Anmaßung vorkam, weil ich so sicher war, sie könnten unmöglich die Dinge wissen, die ich wußte. Ihr Betragen, das einfach das Betragen gewöhnlicher Individuen war, die ihren Geschäften in der Überzeugung vollkommener Sicherheit nachgehen, war mir widerwärtig wie die empörenden Faxen zügelloser Torheit angesichts einer Gefahr, die solche Torheit zu begreifen unfähig ist. Ich hatte keine große Lust, sie aufzuklären, doch ich hatte einige Mühe, mich zu beherrschen und ihnen nicht ins Gesicht zu lachen, das so voll alberner Wichtigtuerei war. Allerdings war ich zu jener Zeit nicht recht wohl.
Ich torkelte durch die Straßen – es galt, verschiedenes zu erledigen –, und ich grinste vollkommen ehrbaren Leuten sarkastisch ins Gesicht. Ich gebe zu, mein Benehmen war unentschuldbar, aber andererseits war auch meine Temperatur damals selten normal. Die Bestrebungen meiner lieben Tante, ›mich wieder zu Kräften zu bringen‹, schienen vollkommen verfehlt zu sein. Nicht meine Kräfte bedurften der Auffrischung, meine Einbildung war es, die der Beruhigung bedurfte. Ich bewahrte das Bündel Papiere, das Kurtz mir übergeben hatte, ohne genau zu wissen, was ich damit anfangen sollte. Seine Mutter war kürzlich gestorben, betreut, wie mir gesagt wurde, von seiner Zukünftigen. Ein glattrasierter Mann mit einer amtlichen Miene und goldgeränderter Brille sprach eines Tages bei mir vor und fragte mich, versteckt zunächst und später höflich drängend, über das aus, was er gewisse ›Dokumente‹ zu nennen beliebte. Ich war verdutzt, weil ich mit dem Direktor dort draußen bereits zweimal wegen derselben Sache heftig Streit bekommen hatte. Ich hatte mich geweigert, auch nur den winzigsten Fetzen aus jenem Packen herauszugeben, und ich nahm dem bebrillten Mann gegenüber dieselbe Haltung ein. Er setzte schließlich eine finster drohende Miene auf und erklärte sehr hitzig, die Gesellschaft habe ein Recht auf jegliche Information über ihr ›Territorium‹. Und er sagte auch noch: ›Die Kenntnisse des Herrn Kurtz über unerforschte Gebiete müssen notwendigerweise umfassend und eigenartig gewesen sein – dank seinen großen Fähigkeiten und den beklagenswerten Situationen, in die er versetzt wurde: deshalb …‹ Ich versicherte ihm, die Kenntnisse des Herrn Kurtz, wie umfassend sie auch gewesen sein mochten, hätten keinen Bezug auf die Probleme des
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