Untitled
dringend etwas Warmes. Sie wollen doch wohl nicht auf der Straße zusammenklappen?»
Er trottete bereitwillig neben ihr her. Sie gestattete sich ein, zwei Sekunden reuevollen Bedauerns wegen des verlorenen Arbeitsnachmittags. Sie besaß die Angewohnheit, wenn sie beim Schreiben in einem Kapitel feststeckte, eine forsche Runde im Park zu drehen, und oftmals schon hatte sich bei ihrer Rückkehr ins Arbeitszimmer eine wundersame Wandlung vollzogen, so daß sie plötzlich deutlich vor sich sah, wie es weitergehen mußte. Diesmal aber hatte der Spaziergang das Kapitel für heute ad acta gelegt. Aber sie konnte ja wohl kaum einen Schriftstellerkollegen an einem bitterkalten Januarnachmittag sich zu Tode frieren lassen, auch wenn er seine idiotische Empfindsamkeit auf die Spitze trieb und offenbar unfähig war, sich warm anzuziehen.
Ein helles Feuer brannte im leeren Salon am Audley Square. Harriet brachte ihren Gast in einem Sessel unter und läutete nach Meredith.
«Haben wir eine Suppe, Meredith, was glauben Sie? Oder jedenfalls etwas Warmes, bitte so schnell es geht.»
Unbeeindruckt warf Meredith einen Blick auf den zitternden Gast. «Darf ich vorschlagen, Eure Ladyschaft, daß der Gentleman nicht ganz so nah beim Feuer sitzt, um Frostbeulen zu vermeiden, Eure Ladyschaft? Und vielleicht sollte ich umge hend einen Schluck Brandy holen.»
«Danke, Meredith. Ganz richtig», mußte Harriet zugeben.
Sie beobachtete Claude, derweil die Wärme, das Essen und der Alkohol das Beben seiner Glieder zur Ruhe brachten und die bläulich-fahle Farbe seiner Hände und des Gesichts langsam in gesundes Rosa übergehen ließen. Und trotzdem wirkte er immer noch reichlich deprimiert.
«Geht es Ihnen jetzt besser?» fragte sie ihn, als Meredith das Tablett abgeräumt hatte.
«Sie sollten sich gar nicht um mich kümmern», gab er rüde zur Antwort. «Sonst tut das ja auch keiner.»
«Aber bringt denn nicht Laurence Harwell Ihr Stück zur Aufführung?» fragte sie.
«Doch, das macht er», antwortete Amery kurz angebunden und wurde noch etwas röter. «Ich sollte dem Feind wohl dankbar sein. Das bin ich auch, natürlich. Aber …»
«Mr. Amery …»
«Nennen Sie mich Claude. Sie sind kein Feind. Sie haben eine sehr positive Kritik über mich geschrieben, und ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt.»
«Sie sollten sich für eine gute Besprechung nicht bedanken», sagte Harriet. «Das klingt, als ob ich dem Autor einen Gefallen getan hätte, dabei habe ich nur dem Buch Gerechtigkeit widerfahren lassen. Und, Claude, bitte seien Sie ein bißchen vorsichtiger. Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, wenn Sie Laurence Harwell Ihren Feind nennen, aber ich weiß sicher, daß Sie ihn vor mir nicht so nennen sollten.»
«Warum nicht? Wenn ich es Ihnen nicht erzählen kann, wem dann? Sie haben doch zumindest schon ein bißchen mehr vom Leben gesehen als diese ganzen Ungeheuer mit ihren gestärkten Hemden, ihren Fischbeinkorsetts und ihren geziert geschürzten Lippen, die sich in ihrer vermeintlichen Wohlanständigkeit suhlen. Laurence Harwell ist mein Feind, weil ich seine Frau wahnsinnig liebe. Was sagen Sie jetzt?»
Harriet sagte nichts. Dann: «Es tut mir leid für Sie.»
«Warum das denn?» rief er, sprang auf und fing an, im Zimmer hin und her zu laufen. «Warum tue ich Ihnen leid? Glauben Sie, es ist hoffnungslos?»
«Hilfe!» dachte Harriet. Sie war soeben, wie sie merkte, geradewegs in den todbringenden Abgrund getreten, der die Sicht der Menschen auf sich selbst und ihre eigene Situation von der Sicht, die Beobachter von außen einnehmen, scheidet. Und dem armen jungen Mann stand das Wasser offensichtlich bis zum Hals.
«Es muß ein schweres Schicksal sein, sich in eine verheiratete Frau zu verlieben», sagte sie in ruhigem Ton. «Und gerade die Harwells sind in ganz London für ihre flammende Liebe berühmt. Also, Claude: Ja, Sie tun mir leid, und ich glaube, es ist hoffnungslos.»
«Ich weiß nicht, woran ich mit ihr bin», sagte er. Er ging wieder zu seinem Sessel, setzte sich hin und sah Harriet an.
«Manchmal ist sie so wunderbar zu mir, so nett und so entschlossen, mir dabei zu helfen, mein Werk auf die Bühne zu bringen. Und ein anderes Mal dann wieder schiebt sie mich einfach beiseite. Tagelang fiebere ich einer Verabredung mit ihr entgegen, und dann sagt sie mir ab, weil sie einkaufen gehen will oder sich die Haare machen lassen, oder sie hat Kopfschmerzen und muß zu Hause bleiben. Ich hätte sie heute
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