Untitled
Spiegel?»
«Kein schlechter Versuch. Sie wird so glücklich damit sein wie mit einem Spiegel – und es ist dasselbe Glück, denn wissen Sie, auch sie sieht nicht, was wirklich da ist, wenn sie in den Spiegel guckt. Aber trotzdem, ein Spiegel kann es auf keinen Fall sein. Überlegen Sie, warum nicht. Sie schreiben doch Bücher, wo die Tatsachen aus dem äußeren Anschein erschlossen werden, sehen Sie noch einmal genau hin, und sagen Sie mir, warum es kein Spiegel sein kann.»
Harriet untersuchte das Portrait, das fast vollendet war, mit Ausnahme des Hintergrunds und einiger Accessoires.
«Ein Spiegel würde reflektieren, das Licht auf die untere Gesichtshälfte werfen, aber auf dem Bild gibt es keinen Widerschein.»
« Bien, très bien! Ich muß eins Ihrer Bücher kaufen und es lesen. Ich werde Ihnen das Objekt jetzt zeigen. Das hier hat ein junger Mann gemacht, den ich kenne und der hin und wieder mein Atelier benutzt. Wie es sich gehört, ist er begabt und arm. Ich persönlich gehe nicht davon aus, daß er ewig arm sein wird, er malt nämlich das, was andere Menschen gerne sehen wollen, und für so etwas gibt es einen großen Markt. Bitte sehr, hier, sehen Sie? Das wird Mrs. Harwell gefallen, vielleicht sogar besser als mein Portrait.»
«Eine Maske!»
«Vorsichtig bitte, es ist Pappmache. Das ist doch raffiniert, hein ?»
«Sehr raffiniert, und auch sehr schön.»
«So sieht sie sich selbst: ‹Die Schönheit mit rotgoldenem Haar›, tout simplement. Aber mein Bild zeigt sie als ‹Die Verzauberte›, denn, sehen Sie, die böse Hexe hat sie eingesperrt, sicher eingesperrt in einen schwarzen Turm, der keine Fenster hat, und es gibt nur eine Pforte, und die ist aus Elfenbein, und all ihre Träume richten sich auf diese elfenbeinerne Pforte, die sie von der wirklichen Welt abschirmt. Das ist nur gut so, denn wenn sie einen Blick, einen noch so kurzen Blick auf die Dinge, wie sie wirklich sind, werfen könnte, dann würde sie schreiend davonrennen und sich im tiefsten Verlies unten im Burgwall verkriechen. Avec ça , daß im moyen-âge das Burgverlies nie im Wall war, sondern unter dem Bergfried, aber das lassen wir durchgehen, wenn die Redensart nun einmal so lautet.»
«Was Sie alles erkennen, Monsieur Chapparelle!»
«Sie glauben mir nicht? Je suis psychologue: Ich muß auch einer sein. Aber Sie haben nichts zu befürchten. Eine Dame, die sich von der Kanalisation berücken läßt, weicht der Realität nicht aus. Allons! Au travail. Wi dmen Sie sich bitte schnell wieder Ihrer unterirdischen Meditation, und ich halte mich wieder an meine Farben. Des goûts et des égouts , über Geschmack und über Kanalisation läßt sich nicht streiten.»
7
Was grämt dich, Mann in Waffen, was?
Du hinkst allein und bleich umher.
Es sank das Schilf am See und singt
Kein Vogel mehr.
JOHN KEATS
«Mr. Amery, sind Sie das? Lady Peter Wimsey – Harriet Vane.»
Harriet war schon halb an der Parkbank vorbeigegangen, be
vor sie den jungen Mann erkannte, der, den Kopf in die Hände gestützt, dort saß und einen niedergeschlagenen Eindruck machte. Nun sah er sie mit leerem Gesicht an, als ob er sie nicht erkannte.
«Oh, oh, ja, natürlich», sagte er, als er mit einiger Verspätung auf die Füße kam und die Hand ergriff, die sie ihm entgegenstreckte. «Es tut mir leid, ich …»
«Ist alles mit Ihnen in Ordnung?» fragte sie ihn. Er trug einen leicht abgewetzten Mantel, den er nicht zugeknöpft hatte, seine Hand, die sie geschüttelt hatte, war steif und blau gefroren von der Kälte, und aus seinem Gesicht sprach Verzweiflung. Sie war sich nicht sicher, ob er nicht sogar zitterte.
«Ich glaube nicht, daß mit mir jemals wieder alles in Ordnung sein wird!» stieß er hervor.
«Aber nicht doch», beschwichtigte ihn Harriet. «Ihnen wird einfach nur sehr, sehr kalt sein. Wie lange sitzen Sie schon auf dieser Bank?»
«Eine Ewigkeit», antwortete er. «Ich weiß es nicht.»
«Kommen Sie mit mir mit», sagte Harriet entschlossen.
«Wir werden irgendwo eine heiße Suppe oder heißen Kaffee und einen Brandy für Sie auftreiben.»
«Das kann ich mir nicht leisten», sagte er. «Ich bin absolut blank.»
«Ich kann …» begann Harriet, aber als ihr schlagartig klar wurde, daß die Frage des Bezahlens besser überhaupt nicht aufs Tapet kam, fuhr sie anders als ursprünglich geplant fort: «Ich kann Ihnen bei uns zu Hause etwas herrichten lassen. Es ist gleich um die Ecke. Und keine Diskussionen! Sie brauchen wirklich
Weitere Kostenlose Bücher