Untitled
gesehen zu haben. Und wir versuchen, einen Mr. Claude Amery zu finden, der der Dahingeschiedenen in Hampton eventuell einen Besuch abgestattet hat.»
«Na, der sollte nicht so schwer aufzutreiben sein», warf Wimsey ein. «Harriet hat bestimmt seine Adresse.»
«Er ist aber nicht zu Hause. Wie eine Nachbarin uns sagte, ist er für ein paar Tage weggefahren. Sie weiß aber nicht, wohin. Möchtest du dabei sein, wenn wir ihn verhören?»
«Wenn er nichts dagegen hat», sagte Wimsey. «Er wird schon auftauchen, wenn er in der Zeitung von der Sache liest, denke ich. Die Zeitungen bringen die Geschichte doch?»
«Auf der ersten Seite», antwortete Charles und zog den Daily Yell aus seiner Aktenmappe, um ihn Wimsey vor die Nase zu halten. «Ehefrau des Guten Geists tot aufgefunden» lautete die Schlagzeile. «Die Gattin von Mr. Laurence Harwell, der als der ‹Gute Geist› der Theaterszene bekannt ist, wurde gestern morgen im Landhaus des Ehepaars tot aufgefunden … nicht zum ersten Mal im Blickpunkt der Öffentlichkeit … Tochter eines verurteilten Betrügers …» Wimsey überflog angewidert den Artikel.
«Fällt dir noch etwas ein, was wir tun sollten?» fragte ihn Charles.
«Aber sicher», antwortete Wimsey. «Findet heraus, was mit dem Hund passiert ist.»
«Ein Mr. Warren wünscht Sie zu sprechen, Mylady», sagte Meredith.
«Mr. Warren? Was um Himmels willen …?» Harriet sah von ihrem Manuskript auf. «Hat er nach mir gefragt oder nach Seiner Lordschaft?»
«Nach Ihnen, Mylady. Seine Lordschaft ist vor etwa einer Stunde ausgegangen. Sind Sie zu sprechen? Der Gentleman wirkt sehr bedrückt, Mylady.»
«Dann sollte ich wohl zu sprechen sein», meinte Harriet. «Bitten Sie ihn in den Salon.»
Es war unter den gegebenen Umständen nur natürlich, einer Begegnung mit Mr. Warren mit Schrecken entgegenzusehen, aber Harriet warf sich auf dem Weg in den Salon trotzdem Feigheit vor. Keinen Gedanken hatte sie daran verschwendet, welche Auswirkung die Katastrophe auf Mr. Warren haben mochte – den armen alten Dummkopf. Aber ein wenig Liebenswürdigkeit sollte er – wie jeder, der solch einen Schock erlitten hatte – doch wohl erwarten dürfen. Harriet nahm sich vor, ihr liebenswürdigstes Gesicht aufzusetzen.
Mr. Warren war in einer furchtbaren Verfassung. Unrasiert, die Augen rot geweint und insgesamt etwas unordentlich, als ob er sich in großer Eile angekleidet und nicht mehr in den Spiegel gesehen hätte, bevor er das Haus verlassen hatte. Der Ärmste, ihr würde es also gar nicht schwerfallen, liebenswürdig zu ihm zu sein. Als sie eintrat, hatte er sich erhoben, und da er sehr schwach auf den Füßen zu sein schien, beeilte sie sich, Platz zu nehmen.
«Lady Peter, ich wußte nicht, an wen ich mich wenden sollte …»
«Kann ich Ihnen Kaffee anbieten, Mr. Warren? Oder einen Drink? Sie sehen schrecklich mitgenommen aus …»
«Nein. Ich …»
«Es tat mir so entsetzlich leid, von Ihrem Verlust erfahren zu haben», sagte Harriet und hielt ihm das Zigarettenkästchen hin. Mr. Warrens Hand zitterte, als er die Zigarette anzündete.
«Das ist das Schlimmste, was passieren konnte», sage er.
«Noch schlimmer als das Gefängnis. Als ich gedacht habe, das Gefängnis sei das Schlimmste, habe ich mich getäuscht, bitter getäuscht. Ach, wenn ich nur wieder ins Gefängnis gehen könnte, und meine Tochter wäre dafür noch am Leben …» Er begann zu weinen.
«Was kann ich ihm nur sagen?» überlegte Harriet. Ein Kind zu verlieren ist ganz sicher das Schlimmste, was einem Vater passieren kann. Eine Verkehrung des normalen Laufs der Natur. Ein unschuldiges Kind aber durch Gewalt zu verlieren war eine besonders abscheuliche und unerträgliche Wendung des Schicksals. «Wie sollte ich ihn trösten können», dachte sie. «Ich kenne ihn ja kaum.»
«Lord Peter versteht so viel von Verbrechen», sagte Mr. Warren gerade, «und Sie waren so liebenswürdig zu mir, als wir neulich hier bei Ihnen waren. Ich dachte, Sie müßten doch wissen, was zu tun ist und wozu Sie mir raten können …»
«Ich werde Ihnen helfen, so gut ich kann», sagte Harriet sanft.
«Sehen Sie, es ist meine Schuld», sagte er. In seiner Stimme lag Trostlosigkeit, und plötzlich ruhig geworden, blickte er Harriet aus seinen tiefen Augenhöhlen fest an.
Für einen kurzen Moment verschlug es ihr die Sprache.
«Wenn jemand stirbt, denken die Hinterbliebenen oft, daß sie daran irgendwie eine Mitschuld tragen», erwiderte sie
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