Untitled
neu. Über die Entführung hatte er nie zuvor gesprochen. Ich vergaß alles im Gerichtssaal. Mein Blick blieb auf Gary Soneji/Murphy gerichtet.
Ich versuchte, so beiläufig und unbedrohlich wie möglich zu klingen. Ganz ruhig. Ganz langsam. Das hier war, wie wenn man am Rand einer Kluft entlangging. Ich konnte ihm helfen, wir konnten aber auch beide abstürzen. »Was ist mit Sonejis Plan schiefgegangen?«
»Alles, was überhaupt schiefgehen konnte«, sagte er. Er war immer noch Gary Murphy. Das sah ich. Er hatte sich nicht in Sonejis Persönlichkeit verwandelt. Aber Gary Murphy wußte Bescheid über Gary Sonejis Taten; unter Hypnose kannte Gary Murphy die Gedanken Sonejis.
Im Gerichtssaal blieb es ganz still. In meinem Gesichtsfeld rührte sich nichts.
Gary nannte weitere Einzelheiten über die Entführung. »Er schaute nach dem kleinen Goldberg, und der Junge war tot. Sein Gesicht war ganz blau. Er muß ihm zuviel Barbiturat gegeben haben … Soneji konnte es nicht fassen, daß er einen Fehler gemacht hatte. Er war so gründlich und vorsichtig gewesen. Er hatte davor mit Anästhesisten gesprochen.«
Ich stellte eine Schlüsselfrage: »Warum wurde die Leiche des Jungen so furchtbar zugerichtet? Was genau ist dem kleinen Goldberg zugestoßen?«
»Soneji ist ein bißchen ausgerastet. Er konnte es nicht fassen, daß er solches Pech hatte. Er hat die Leiche des kleinen Goldberg immer wieder mit einer schweren Schaufel geschlagen.«
Wie er über Soneji sprach, war bis jetzt vollkommen glaubwürdig. Es war schließlich doch möglich, daß er das Opfer einer Persönlichkeitsspaltung war. Das konnte innerhalb des Prozesses alles ändern, und möglicherweise auch das Urteil.
»Was war das für eine Schaufel?« fragte ich.
Er sprach jetzt immer schneller. »Die Schaufel, die er dazu benützt hat, die Kinder auszugraben. Sie waren in der Scheune vergraben. Sie hatten einen Luftvorrat für zwei Tage. Es war wie ein Atombunker, wissen Sie. Die Luftversorgung hat bestens funktioniert; alles hat bestens funktioniert. Soneji hat es selbst erfunden. Er hat es selbst gebaut.«
Mein Puls hämmerte. Meine Kehle war sehr, sehr trocken. »Was ist mit dem kleinen Mädchen? Was ist mit Maggie Rose?« fragte ich.
»Ihr ging es gut. Soneji hat ihr beim zweiten Mal Valium gegeben. Damit sie wieder einschlief. Sie hatte Angst, sie hat geschrien – weil es unter der Erde so dunkel war. Pechschwarz. Aber so schlimm war das auch wieder nicht. Soneji hatte schon Schlimmeres erlebt. Im Keller.«
Ich ging zu diesem Zeitpunkt äußerst vorsichtig vor. Ich wollte ihn nicht jetzt verlieren. Was war mit dem Keller? Ich würde versuchen, später auf den Keller zu sprechen zu kommen.
»Wo ist Maggie Rose jetzt?« fragte ich Gary Murphy.
»Weiß ich nicht«, sagte er ohne zu zögern.
Nicht, sie ist nicht tot. Nicht, sie ist am Leben … Weiß nicht. Warum sperrte er sich gegen diese Information? Weil er wußte, daß ich sie haben wollte? Weil alle im Gerichtssaal das Schicksal von Maggie Rose Dunne erfahren wollten?
»Soneji ist zurückgegangen, um sie zu holen«, sagte er als nächstes. »Das FBI war mit den zehn Millionen Lösegeld einverstanden. Alles war abgemacht. Aber sie war fort! Maggie Rose war nicht da, als Soneji zurückkam. Sie war fort! Jemand anders hatte das Mädchen weggebracht!«
Die Zuschauer im Gerichtssaal waren nicht mehr still. Aber ich konzentrierte mich weiter auf Gary.
Richterin Kaplan widerstrebte es, mit dem Hammer zu klopfen und um Ruhe zu bitten. Sie stand auf. Sie forderte mit einer Geste zur Stille auf, aber das nützte nichts. Jemand anders hat te das Mädchen weggebracht. Jemand anders hatte jetzt das
Mädchen.
Ich stellte schnell ein paar weitere Fragen, ehe der ganze Saal außer Kontrolle geriet, und möglicherweise Soneji/Murphy gleichfalls. Meine Stimme blieb leise, unter den Umständen überraschend ruhig. »Haben Sie Maggie Rose ausgegraben, Gary? Haben Sie das kleine Mädchen vor Soneji gerettet? Wissen Sie, wo Maggie Rose ist?« fragte ich ihn.
Diese Fragen gefielen ihm überhaupt nicht. Er schwitzte stark. Seine Lider flatterten. »Natürlich nicht. Nein, ich hatte nichts damit zu tun. Das war von Anfang bis Ende Soneji. Ich kann ihn nicht unter Kontrolle halten. Niemand kann das. Verstehen Sie das denn nicht?«
Ich beugte mich im Sessel vor. »Ist Soneji jetzt hier? Ist er heute morgen hier bei uns?«
Unter anderen Umständen hätte ich ihn niemals so weit getrieben. »Kann ich Soneji
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