Untitled
und distanziert, als sie schließlich in die Küche kam. Sie war ein unscheinbares Mädchen, etwa fünfzehn oder sechzehn. Ich merkte, daß sie nicht freiwillig hier war.
»Letzte Woche«, sagte Sampson, um mich ins Bild zu setzen, »hat sich Nina getraut, einer Hilfslehrerin im Südosten zu erzählen, daß sie möglicherweise zwei Nächte vor den Morden den Killer gesehen hat. Sie hatte bis jetzt Angst, darüber zu sprechen.«
»Ich verstehe«, sagte ich. Es ist so gut wie unmöglich, in Condon, Langley oder einer anderen Schwarzengegend in D.C. Augenzeugen dazu zu bringen, mit der Polizei zu sprechen.
»Ich habe gesehen, wie er gefaßt worden ist«, sagte Nina beiläufig. Schöne rostfarbene Augen schauten mich aus ihrem unhübschen Gesicht an. »Da hatte ich keine solche Angst mehr. Aber ein bißchen Angst habe ich immer noch.«
»Wie hast du ihn erkannt?« fragte ich Nina.
»Hab' ihn im Fernsehen gesehen. Der hat auch diese Entführung gemacht«, sagte sie. »Er kommt dauernd im Fernsehen.«
»Sie hat Gary Murphy erkannt«, sagte ich zu Sampson. Das hieß, sie hatte ihn ohne die Lehrerverkleidung gesehen.
»Bist du sicher, daß es derselbe Mann wie der im Fernsehen war?« fragte Sampson.
»Ja. Er hat das Haus meiner Freundin Suzette beobachtet. Mir kam das richtig seltsam vor. Hierher kommen nicht viele Weiße.«
»Hast du ihn am Tag oder bei Nacht gesehen?« fragte ich.
»Bei Nacht. Aber ich weiß, daß er es war. Bei den Sanders' hat immer helles Licht auf der Veranda gebrannt. Mrs. Sanders hatte vor allem und vor jedem Angst. Sie hatte Angst, wenn jemand auch nur ›buh‹ gemacht hat. Das haben Suzette und ich immer gesagt.«
Ich wandte mich Sampson zu. »Er war also am Tatort.«
Sampson nickte und schaute wieder Nina an. Ihr Schmollmund hatte sich zu einem kleinen O geöffnet. Sie drehte ständig die Zöpfe zwischen den Fingern.
»Könntest du Detective Cross sagen, was du noch gesehen hast?« fragte er.
»Noch einen Weißen, der bei ihm war«, sagte Nina Cerisier. »Der Mann hat im Auto gewartet, während der andere sich Suzettes Haus angesehen hat. Der andere Weiße war die ganze Zeit da. Es waren zwei.«
Sampson drehte den Küchenstuhl in meine Richtung. »Sie haben es eilig, ihn vor Gericht zu bringen«, sagte er. »Sie haben überhaupt keine Ahnung, was tatsächlich los ist. Sie schließen den Fall trotzdem ab. Begraben ihn. Vielleicht haben wir die Antwort, Alex.«
»Bis jetzt sind wir die einzigen, die ein paar Antworten haben«, sagte ich.
Sampson und ich verließen das Haus der Cerisiers und fuhren getrennt in die Innenstadt. Durch meinen Kopf raste alles, was wir bis jetzt wußten, ein halbes Dutzend Abläufe, zusammengesetzt aus Tausenden von Fällen. Polizeiarbeit. Zentimeterweise.
Ich dachte an Bruno Hauptmann und die LindberghEntführung. Als er gefaßt und ihm die Tat möglicherweise angehängt worden war, hatte man Hauptmann auch in aller Eile vor Gericht gebracht. Hauptmann war verurteilt worden, vielleicht zu Unrecht.
Gary Soneji/Murphy wußte das alles. Gehörte das zu seinen komplizierten Planspielen? Ein Zehn- oder Zwölfjahresplan? Wer war der zweite Weiße? Der Pilot in Florida? Oder jemand wie Simon Conklin, Garys Freund aus Princeton?
War es möglich, daß es von Anfang an einen Komplizen gegeben hatte?
Am Abend war ich mit Jezzie zusammen. Sie bestand darauf, daß ich um acht mit der Arbeit aufhörte. Seit über einem Monat hatte sie Karten für ein Georgetown-Basketballspiel, das ich unbedingt sehen wollte. Auf der Fahrt dorthin machten wir, was wir selten taten: Wir sprachen nur über unsere Arbeit. Ich ließ die neueste Bombe platzen, die »Komplizentheorie«.
»Das ist alles äußerst verwirrend«, sagte Jezzie, als ich ihr Nina Cerisiers Geschichte erzählt hatte. Sie war immer noch fast so besessen wie ich von dem Kidnappingfall. Sie ließ es sich weniger deutlich anmerken, aber ich wußte, er hing ihr nach.
»Fragen Sie den netten Mann vom Kundendienst. Ich verstehe alles, was verwirrend wirkt. Ich bin Spitze im Entwirren.«
»Okay. Das Mädchen war eine Freundin von Suzette Sanders, stimmt's? Sie stand der Familie nahe. Und trotzdem hat sie nichts gesagt. Weil die Beziehungen zur Polizei in der Gegend so mies sind? Ich weiß nicht, ob ich ihr das abkaufe. Urplötzlich, erst jetzt, rückt sie damit heraus.«
»Ich kaufe es ihr ab«, sagte ich zu Jezzie. »Für viele Leute in solchen Gegenden ist die Polizei wie Rattengift. Ich wohne dort, sie kennen
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