Untitled
Zahl 35 vor einem maurisch verschnörkelten Hintergrund. Mit Aggie auf den Fersen hastete Oliver über die Rampe und kam zu einem zweiten, bescheideneren Eingang für Personal und Lieferanten. Zwei Torflügel aus Stahl, knapp zwei Meter hoch und mit Dornen zum Aufspießen christlicher Märtyrer besetzt, versperrten ihnen den Weg. Hinter ihnen war die Rückseite der Villa, ein Durcheinander von Abflußrohren, Schornsteinen und Wasserspeiern. In keinem der Fenster war Licht: Aggie untersuchte das Schloß im Schein ihrer Taschenlampe, schob das lange Ende des Radschlüssels in die Lücke zwischen den Torflügeln, drückte leicht und zog es wieder heraus. Aus einem kleinen Loch neben dem Schloß ragte ein Stromkabel. Sie befeuchtete einen Finger, faßte den Draht an und schüttelte den Kopf. Sie schob Oliver den Radschlüssel in den Hosenbund, lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer und verschränkte die Hände, mit den Handflächen nach oben, vor ihrem Bauch. »So«, flüsterte sie.
Er machte es ihr nach, und sie setzte einen Fuß in seine Hände, aber nicht lange. Er spürte einen kurzen Druck, und schon sah er sie über die Märtyrerdornen zu den Sternen segeln. Als sie landete, hörte er ein Rascheln und geriet in Panik. Wie folge ich ihr? Wie kommt sie zurück? Ein Durchlaß im Tor öffnete sich quietschend, und er schlüpfte durch die Lücke. Plötzlich wußte er den Weg. Ein mit Steinplatten ausgelegter Pfad führte zwischen Villa und Mauer entlang. Hier hatte er mit Jewgenijs Enkelinnen Nachlaufen gespielt. Ein Strebebogen wölbte sich vor dem Himmel, dicke Abflußrohre lagen wie Kanonen längs des Wegs. Die Kinder hatten sie als Hüpfsteine benutzt. Oliver ging voran, hielt sich mit einer Hand an der Mauer im Gleichgewicht. Er dachte an den verglasten Korridor zu Tigers Penthouse, und wie er mit einem Schuh dort durchgehumpelt war. Sie hatten die Vorderseite der Villa erreicht. Die abfallenden Terrassen des Gartens lagen flach wie Spielkarten im Mondlicht. Mauer und Torhaus unten glichen aus Papier geschnittenen Verteidigungsanlagen einer Kinderfestung.
Aggie schlang die Arme um ihn und nahm behutsam den Radschlüssel an sich. »Warte hier«, bedeutete sie ihm durch Zeichen. Er hatte keine andere Wahl. Sie schlich bereits an der Vorderseite der Villa entlang, blickte in jedes der hohen Fenster, bewegte sich mit Katzensprüngen voran, spähte und huschte weiter, erstarrte und spähte wieder. Als sie winkte, schlich er ihr nach und schämte sich seiner Unbeholfenheit. Das Mondlicht war taghell, nur war alles in Schwarzweiß. Das erste Fenster war ihm nicht vertraut. Der Raum war leer. Auf dem Fußboden lagen we lke Blumen verstreut: Rosen, Nelken, Orchideen, Fetzen von Silberfolie. In einer Ecke standen zwei Latten, über Kreuz zusammengenagelt. Dann bemerkte er weiter unten an der senkrechten noch eine weitere Latte und erinnerte sich an das orthodoxe Kreuz. In der Mitte des Raums stand ein schmaler Anstreichertisch, aber er sah weder Pinsel noch Töpfe. Aggie winkte ihn weiter.
Er kam zum zweiten Fenster und sah ein Kinderbett, einen Nachttisch mit Leselampe und einem Stapel Bücher, und an einem Haken hing ein kleiner Morgenmantel. Er kam zum dritten Fenster und hätte beinahe laut aufgelacht. An den Wänden standen einige von Jewgenijs kostbaren Birkenholzmöbeln. Und mitten auf den Dielen, den Raum beherrschend, stand in seinen Schutzbezug gehüllt wie ein schlafendes Shetlandpony die BMW. Als er Aggies Aufmerksamkeit auf diesen amüsanten Anblick lenken wollte, drehte er sich um und sah sie starr mit dem Rücken an der Wand stehen; sie hatte die Hände gespreizt und nickte mehrmals seitlich mit dem Kopf nach dem Fenster neben ihr, dem letzten in der Reihe. Er kroch zu ihr hin und an die andere Seite des Fensters und spähte hinein. Zoya saß in Tinatins Schaukelstuhl. Sie trug ein langes schwarzes Kleid, eine Art Abendkleid, und schwarze russische Stiefel. Ihr Haar war unordentlich zu einem Knoten aufgesteckt, und ihr Gesicht sah aus wie eine Ikone ihrer selbst, hager und mit großen Augen. Sie starrte aus dem Fenster, aber ihr Blick war so bitter und abwesend, daß Oliver kaum glaubte, daß sie außer den Dämonen in ihrem Kopf irgend etwas wahrnahm. Auf dem Tisch neben ihr befand sich eine tropfende Kerze, auf ihren Knien lag eine Kalaschnikoff. Zoyas rechter Zeigefinger war um den Abzug gekrümmt.
Aggie begriff nicht gleich, was Oliver ihr mitzuteilen versuchte, und er mußte es ihr mehrmals
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