Untot in Dallas
an die Geschehnisse jener Nacht zu führen war ein wenig so, als sähe ich mir einen zugegebenermaßen ziemlich langweiligen Film an. Bethany konnte sich fast schon zu gut an alles erinnern. Rasch überging ich die absolut langweiligen Teile - etwa einen Streit zwischen den beiden Frauen über die Vor- und Nachteile verschiedener getönter Tagescremes -, um mich ganz auf den roten Faden zu konzentrieren. Bethany erinnerte sich daran, sich für die Arbeit zurechtgemacht zu haben, wie sie das immer tat. Dann waren Desiree und sie gemeinsam hingefahren. Desiree arbeitete in der Geschenkboutique des Bat's Wing, wo sie, bekleidet mit einem roten Bustier und schwarzen Stiefeln, Vampir-Souvenirs zu Höchstpreisen verkaufte. Manchmal legte sie auch künstliche Fangzähne an und war dann gegen ein fürstliches Trinkgeld bereit, Arm in Arm mit Touristen für ein Erinnerungsfoto zu posieren. Die eher knochige und schüchterne Bethany dagegen arbeitete als einfache Kellnerin, wartete aber seit mehr als einem Jahr darauf, daß auch für sie eine Stelle in der Geschenkboutique frei würde. Die Arbeit dort hätte ihr mehr gelegen als das Kellnern; zwar brachte sie nicht dieselben Trinkgelder ein, dafür war der Grundlohn höher, und man konnte sich hinsetzen, wenn nichts zu tun war. Aber noch hatte Bethany ihr Ziel nicht erreicht, und das nahm sie Desiree ziemlich übel. Diese Information war unerheblich; dennoch hörte ich, wie ich sie an Stan weitergab, als sei sie wichtig.
Nie zuvor war ich so tief in das Bewußtsein eines anderen Menschen eingedrungen. Ich war bemüht, gleich von Anfang an Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, aber das gelang mir nicht, weswegen ich schließlich alles einfach so kommen ließ, wie es kommen wollte, derweil Bethany völlig entspannt beim Friseur hockte und sich die Haare schneiden ließ. Präzise und anschaulich, einfach exzellent, waren die Bilder aus der Bar, die in ihrem Gedächtnis auftauchten; sie hatte sich ebenso in die Geschehnisse jenes Abends vertieft wie ich.
Bethany erinnerte sich an vier Vampire, denen sie an jenem Tag synthetisches Blut serviert hatte: eine rothaarige Frau, eine kleine, untersetzte Frau lateinamerikanischer Herkunft mit kohlrabenschwarzen Augen, einen blonden Teenager mit Tätowierungen, deren Muster aus uralten Zeiten zu stammen schien und an einen braunhaarigen Mann mit ausladendem Kinn und Cowboykrawatte. Da! Farrell kam also in Bethanys Erinnerungen vor. Jetzt hieß es, mir nicht anmerken zu lassen, daß ich diesen Mann kannte und es eigentlich die ganze Zeit um ihn gegangen war. Außerdem mußte ich ab jetzt Bethanys Erinnerungen stärker kontrollieren und steuern.
„Es geht um diesen Mann“, flüsterte ich. „Woran erinnerst du dich, wenn du an ihn denkst?“
„Ach der!“ sagte Bethany so laut, daß ich vor Schreck fast vom Stuhl gefallen wäre. Dann drehte sie sich - in ihren Erinnerungen - noch einmal zu Farrell um und konzentrierte sich ganz bewußt auf ihn. Er hatte zwei Flaschen synthetisches Blut getrunken, wobei er jedes Mal die Geschmacksrichtung Null positiv bestellt hatte, und hatte ihr ein Trinkgeld hinterlassen.
Zwischen Bethanys Brauen tauchte eine kleine Falte auf, so sehr konzentrierte sich die junge Frau auf das, worum ich sie gebeten hatte. Mittlerweile strengte sie sich wirklich an, ihr Gedächtnis nach allen Einzelheiten zu durchforsten. Die einzelnen Eindrücke des Abends fügten sich mehr und mehr zu Bildern, weswegen sie nun darangehen konnte, sich ganze Episoden noch einmal anzusehen, die Erinnerungen an den braunhaarigen Vampir beinhalteten. „Er ging mit dem Blonden zusammen aufs Klo“, verkündete sie dann, wobei in ihrem Gedächtnis das Bild des blonden Vampirs mit den uralten Tätowierungen auftauchte, der so ungeheuer jung aussah. Das Bild war so genau, daß ich, wäre ich Malerin gewesen, mühelos eine Zeichnung hätte anfertigen können.
„Ein junger Vampir, vielleicht sechzehn. Blond, Tätowierungen“, raunte ich Stan Davis zu, den diese Auskunft zu verwundern schien. Allerdings nahm ich sein Erstaunen nur ganz nebenbei aus den Augenwinkeln wahr, denn es gab zu viele andere Dinge, auf die ich mich konzentrieren mußte. Ein wenig kam mir meine Arbeit vor wie ein Jonglageakt. Aber der Ausdruck, den ich über Stans Gesicht huschen sah, war eindeutig Erstaunen. Das verwirrte mich etwas.
„Bist du sicher, daß der Junge ein Vampir war?“ fragte ich bei Bethany nach.
„Er hat synthetisches Blut getrunken“,
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